Phytopharmaka – mit Naturstoffen Krankheiten bekämpfen
Phytopharmaka sind pflanzliche Arzneimittel, deren Wirksamkeit auf einem oder mehreren pflanzlichen Inhaltsstoffen beziehungsweise Wirkstoffen beruht. Sie werden seit Menschengedenken zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt. Dieses traditionelle Wissen bildet auch heute noch die Basis für zahlreiche Arzneimittel, die aus Pflanzen hergestellt werden. Auch in Baden-Württemberg werden seit Generationen innovative pflanzliche Arzneimittel hergestellt.
Pflanzen produzieren eine unglaubliche Vielfalt an Naturstoffen. Es überrascht daher nicht, dass der Mensch sich diese Vielfalt zu Nutze macht. So lassen sich historische Quellen, die den Einsatz von Heilpflanzen belegen, bis in die Bronzezeit zurückverfolgen. Heute kann Europa auf eine Kultur der Anwendung von Heilpflanzen zurückblicken, die von Hildegard von Bingen über Friedrich Sertürner und dessen erste Reindarstellung des Morphins, bis zur heutigen Herstellung von pflanzlichen Arzneimitteln führt.
Extrakte als Basis für Salben, Tabletten und Tees
Das Geheimnis der Phytopharmaka ist in der Pflanze zu finden. Die pflanzlichen Arzneidrogen bilden dabei die Basis eines pflanzlichen Arzneimittels. Unter einer Droge versteht man in der Pharmazie Rohstoffe aus Pflanzen, Tieren oder Mikroorganismen, die als Arzneimittel verwendet werden. Pflanzliche Arzneidrogen sind daher naturbelassene Pflanzen oder deren Teile, die sowohl unverarbeitet als auch zerkleinert verwendet werden. Dabei kommen frische als auch getrocknete Pflanzen zum Einsatz. Man unterscheidet hier zwischen Drogen aus den verschiedenen Pflanzenteilen, wie zum Beispiel Blüten-, Knollen-, Frucht- und Stängeldrogen. Die Droge stellt damit das Ausgangsmaterial für das pflanzliche Fertigarzneimittel, also die Phytopharmaka, dar. Aus der pflanzlichen Arzneidroge wird der Extrakt, zum Beispiel ein Trockenextrakt, gewonnen. Dieser enthält zahlreiche Substanzen, die den medizinischen Effekt erzielen, und damit die Wirkstoffe (Arzneistoffe) des späteren pflanzlichen Fertigarzneimittels bilden. Bei einem pflanzlichen Arzneimittel handelt es sich daher um ein Vielstoffgemisch. Dabei werden am häufigsten Trockenextrakte als Granulat, Tabletten, Kapseln und Dragees angeboten. Es gibt aber zum Beispiel auch arzneiliche Öle, wie Arnikablütenöl, die zu Salben verarbeitet werden.1
Phytotherapie ist nicht gleich Homöopathie
Was ein pflanzliches Arzneimittel ist, wird über das Arzneimittelgesetz (AMG) definiert (siehe Definition). Aus Pflanzen isolierte Reinstoffe, wie zum Beispiel Atropin und Morphin, gehören zu den klassischen Arzneimitteln, während Phytopharmaka immer die Pflanze, Teile der Pflanze oder deren Bestandteil enthalten. Phytopharmaka werden auf Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt (Phytotherapie). Phytopharmaka gehören gemeinsam mit den homöopathischen und anthroposophischen Arzneimitteln laut AMG zu den besonderen Therapierichtungen. Jedoch unterscheiden sich Phytopharmaka sowohl im Bereich der Zulassung, als auch im Ansatz der Therapie und Herstellung von den homöopathischen und anthroposophischen Arzneimitteln.
AMG § 4 Sonstige Begriffsbestimmungen (29):„Pflanzliche Arzneimittel sind Arzneimittel, die als Wirkstoff ausschließlich einen oder mehrere pflanzliche Stoffe oder eine oder mehrere pflanzliche Zubereitungen oder eine oder mehrere solcher pflanzlichen Stoffe in Kombination mit einer oder mehreren solcher pflanzlichen Zubereitungen enthalten.“
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist für die Zulassung und Registrierung von pflanzlichen Arzneimitteln zuständig. Hersteller müssen dort Unterlagen zur Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität vorlegen. Traditionelle pflanzliche Arzneimittel, die weltweit seit mindestens 30 Jahren und in der Europäischen Union seit mindestens 15 Jahren medizinisch angewendet werden, unterliegen einem einfacheren Zulassungsverfahren auf Basis von Monografien-Sammlungen, sodass meist keine weiteren klinischen Studien vorgelegt werden müssen.
Phytopharmaka aus sekundären Pflanzenstoffen
Doch was besitzen Pflanzen, dass sie für Mensch und Tier nicht nur als Nahrungsmittel sondern auch als Heilmittel dienen können? Alle Pflanzen haben einen sogenannten Primärstoffwechsel. In ihm werden Aminosäuren, Fette sowie Zucker (Kohlenhydrate) und Nukleotide produziert und abgebaut. Die Synthesewege sind in allen Pflanzen vorhanden und auch bei verschiedenen Pflanzenfamilien sehr ähnlich. Im sogenannten Sekundärstoffwechsel werden die sekundären Naturstoffe hergestellt. Sie werden aus den Metaboliten des Primärstoffwechsels gebildet, daher der Zusatz „sekundär“, und nach biosynthetischen Gesichtspunkten geordnet. Die große Vielfalt der sekundären Naturstoffe lässt sich auf Basis ihrer chemischen Struktur in wenige Stoffgruppen ordnen.
So werden zum Beispiel Alkaloide und Amine aus Aminosäuren gebildet. Weitere sekundäre Pflanzenstoffe sind zum Beispiel Polyketide, Steroide und Phenylpropane. Bisher wurden etwa 80.000 definierte Strukturen von Sekundärmetaboliten aus höheren Pflanzen isoliert.1 In den verschiedenen Pflanzenfamilien treten unterschiedliche sekundäre Naturstoffe auf, die auch in ihrer chemischen Struktur sehr variabel sind. Dadurch ergibt sich eine große Anzahl nahverwandter Strukturen. Die sekundären Metabolite werden in verschiedenen Lebensstadien der Pflanze gebildet. Sie liegen also nicht permanent vor und sind in der Regel für die Wechselbeziehung der Pflanze mit ihrer Umwelt verantwortlich. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Tomatenpflanze. Die jungen, noch nicht reifen Früchte der Pflanze sind sehr reich an Alkaloiden. Die Glycoalkaloide Tomatin und Dehydrotomatin schützen die Pflanze vor Fressfeinden sowie Pilzen und Flechten. Sie werden mit zunehmender Reife der Frucht abgebaut, sodass die reife Tomatenfrucht kaum noch Tomatin und Dehydrotomatin enthält und essbar ist. Bestimmte Pflanzeninhaltsstoffe werden auch nur gebildet, wenn die Pflanze von mikrobiellen Schädlingen befallen ist. So wirken sogenannten Phytoalexine antimikrobiell.1,2
Wirkstoffe gegen Herzinsuffizienz
Am Beispiel der Tomate wird deutlich, dass es sich bei den wirksamen Bestandteilen der Pflanze nicht zwingend um einzelne Wirkstoffe handelt, sondern um Wirkstoffgemische. Es gibt nur wenige pflanzliche Arzneistoffe, die unverändert in der Therapie eingesetzt werden. Dazu gehört das aus dem roten Fingerhut (Digitalis purpurea) isolierte Digitoxin, das als herzwirksames Glycosid bei Herzinsuffizienz eingesetzt wird. Häufiger dienen Naturstoffe als Vorbilder für Arzneistoffe, die heute in veränderter Form auf dem Markt zu finden sind. Die im Mädesüß (Filipendula) enthaltene Salicylsäure wird zum Beispiel als Acetylsalicylsäure seit über 100 Jahren als schmerzstillender Wirkstoff verwendet.3
Johanniskraut ist ein bekanntes pflanzliches Arzneimittel
Am Beispiel des Johanniskrauts kann man gut die Vielfalt in Struktur und Wirkung der sekundären Pflanzenstoffe in einer Pflanze beschreiben. Das sogenannte Johanniskraut (Hyperici herba) wird aus den getrockneten Triebspitzen des Echten Johanniskrauts (Hypericum perforatum) gewonnen. Es enthält unter anderem das Naphthodianthron Hypericin (antivirale Wirkung), das Phloroglucinderivat Hyperforin (antibakterielle Wirkung) sowie weitere Flavonoide (Hyperosid) und Xanthone. Die hier aufgeführten Substanzen werden während der Herstellung des Fertigarzneimittels aus hydroalkoholischen Extrakten (Ethanol 50–60%, Methanol 80%) über Dünnschichtchromatografie nachgewiesen. Während die antibakterielle und antivirale Wirkung auf Hyperforin und die Hypericine zurückgeführt werden kann, ist die antidepressive Wirkung des Johanniskrauts zwar in seiner klinischen Wirksamkeit gesichert, aber der tatsächliche Wirkmechanismus ist nach wie vor umstritten. Hier dient also der Gesamtextrakt als Wirkstoff.1
Phytopharmaka aus Baden-Württemberg
In der Unternehmensdatenbank der BIOPRO Baden-Württemberg GmbH konnten 24 Prozent der Pharmazeutischen Unternehmen in Baden-Württemberg dem Bereich „Hersteller von Phytopharmaka“ zuordnet werden.4 Denn trotz der Gesundheitsreform aus dem Jahr 2004, seit welcher die meisten pflanzlichen Arzneimittel nicht mehr erstattungsfähig sind, ist der Wunsch der Patienten nach pflanzlichen Arzneimitteln ungebrochen. So machen, laut Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e.V. (BAH), im Jahr 2015 die rezeptfreien Arzneimittel für besondere Therapierichtungen mit 2,09 Milliarden Euro einen Anteil von 32 Prozent am Gesamtumsatz aller rezeptfreien Arzneimittel aus Apotheken aus. Zwei Drittel dieses Umsatzes entfielen auf pflanzliche Arzneimittel.5 Laut Daten des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V. (BPI) ist Deutschland im Bereich der Phytopharmaka EU-weit Marktführer.6
Die Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG aus Karlsruhe ist eines der Unternehmen aus Baden-Württemberg, das auf eine lange Tradition in der Herstellung pflanzlicher Arzneimitteln zurückblicken kann. Mit Hilfe aufwendiger Extraktionsverfahren stellt das Unternehmen Pflanzenextrakte her, in denen die gewünschten Inhaltsstoffe konzentriert vorliegen. Für sogenannte Spezialextrakte werden unerwünschte Inhaltsstoffe entfernt und Inhaltsstoffe, die für die Wirksamkeit des Arzneimittels wichtig sind, angereichert. Die Herstellung ist hoch-technisiert. Um die Wirksamkeit, die Qualität und die Unbedenklichkeit zu garantieren, investiert die Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG nach eigenen Angaben jährlich rund 30 Millionen Euro im Rahmen von zum Beispiel kontrollierten randomisierten Doppelblindstudien in die Forschung. So wurde die Wirksamkeit des vom Unternehmen patentierten Spezialextrakts EGb 761®, einem Extrakt aus Blättern von Ginkgo biloba, vielfach in Studien belegt. Der Extrakt, der standardisiert Flavonglykoside, Terpenlactone und höchstens 5 ppm Ginkgolsäuren enthält, wirkt unter anderem bei Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Tinnitus und Schwindel.7,8
Pflanzen bergen noch viele Geheimnisse
Damit wird deutlich, auch wenn Heilpflanzen traditionell in Europa angewendet werden, wird weiterhin intensiv auf diesem Gebiet geforscht. So können zum Beispiel bekannte Arzneimittel optimiert werden, sowie neue Indikationen für bekannte Heilpflanzen entdeckt werden. Forscher des Instituts für Naturheilkunde und Klinische Pharmakologie der Universität Ulm konnten gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlern aus Frankreich und Tunesien am Mausmodell zeigen, dass das als Antitumor-Mittel bekannte Arglabin auch das Fortschreiten von Diabetes mellitus Typ 2 reduzieren kann. Arglabin wird aus Pflanzen der Gattung Artemisia gewonnen, zu der auch die Beifuß-Gewächse gehören.9,10 So können auch für bekannte sekundäre Pflanzenstoffe neue Anwendungsgebiete entdeckt werden.