Rezension
5. Gentechnologiebericht – Kritische Begleitung einer Hochtechnologie
Seit 20 Jahren beobachtet und begleitet eine Gruppe Forschender aus unterschiedlichen Disziplinen die Entwicklung der Gentechnologien. Deren Bedeutung für die Gesellschaft zeigte sich in der Corona-Pandemie: dank gentechnologischer Verfahren gelang die rasche Entwicklung von Impfstoffen. Der 5. Gentechnologiebericht vom Herbst 2021 liest sich damit auch wie eine Bestätigung der langjährigen Arbeit, aus der sich leicht ein Plädoyer für die Fortdauer des kritischen Langzeitmonitorings ableiten lässt.
Im Blickpunkt stehen diese Teilbereiche der Hochtechnologie: Epigenetik, Gendiagnostik, Gentherapie, Impfstoffentwicklung, Stammzell- und Organoidforschung, Grüne Gentechnik, Synthetische Biologie, Gene Drives sowie die Querschnittsmethoden Genome Editing und Einzelzellanalyse. Das klingt nach schwer verdaulicher Lektüre, ist es aber nicht. Nahezu überall ist das Bemühen spürbar, sperrige und komplexe Sachverhalte ins Allgemeinverständliche herunterzubrechen.
„Observatorium“ mit beratender Funktion
Nicht nur das: der 600 Seiten starke Band nimmt das knappe Zeitbudget seiner Leserschaft ernst. Auf den ersten 80 Seiten destilliert, finden sich Kernaussagen zum wissenschaftlichen Sachstand, einschließlich der Handlungsempfehlungen in Kurz- und Langfassung. Gerade diese dürften sich an Fachpolitikerinnen und -politiker richten.
Die interdisziplinäre Arbeitgruppe Gentechnologiebericht sieht sich an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und will „mehr Transparenz“ und „breiten öffentlichen Diskurs“ ermöglichen. Mithilfe von Indikatoren, messbaren Daten wie Publikationen, Fördermitteln oder Veranstaltungen untersucht auch dieser 5. Band wieder Problemfelder, womit die in Teilen umstrittene Technologie in ihrer wissenschaftlichen, ethischen, sozialen wie wirtschaftlichen Dimension verortet werden soll.
Wissen um die eigene Begrenztheit
Am Beispiel des Genome Editing zeigen die Autorinnen und Autoren, dass die Beschreibung komplexer biologischer Vorgänge nur mit sprachlichen Bildern möglich ist, damit sie die Öffentlichkeit versteht. Allerdings geschieht dies mitunter auf Kosten der Richtigkeit: „Sowohl die Metapher des „Editierens“ als auch die Konjunktur des Präzisionsbegriffs (…) verdecken das Problem, dass globale Auswirkungen selbst präziser Änderungen des Genoms bisher oft nicht vorhersagbar sind, weil über die Funktionsweise und Interaktion von Genen, untereinander und mit der Umwelt, weiterhin nur sehr begrenztes Wissen besteht.“ (S. 225)
Somatische Gentherapie - Aufschwung mit langem Anlauf
Spannend und lehrreich ist, wie Boris Fehse den Weg der somatischen Gentherapie aus dem Labor über Klinische Studien zum kommerziellen Einsatz in großen kundigen Zügen und mit guten Beispielen nachzeichnet. Die Gentherapie an Körperzellen hat in den letzten Jahren dank teils spektakulärer Therapieerfolge einen nachhaltigen Aufschwung erlebt. Weitere bevorstehende Zulassungen und eine hohe Zahl Klinischer Prüfungen untermauern diesen Trend.
Dass binnen Jahresfrist hochwirksame Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 entwickelt wurden, geht auf Arbeiten zur Immungentherapie zurück, darauf macht der Autor aufmerksam. Damit sollten Krebspatientinnen und -patienten mittels mRNA-Technologie immunisiert werden. Deren langjähriger Optimierung und unternehmerischem Mut und Können war es zu verdanken, dass eine weltweite Vakzinierung gegen das pandemische Virus starten konnte.
Dieser Querverweis auf die Anfänge dieses gentechnologischen Verfahrens zeigt, gerade mit Blick auf Technologiefelder mit möglicher klinischer Anwendung: Ehe eine Technologie am Menschen sicher und wirksam eingesetzt werden kann, braucht es mitunter jahrzehntelange Entwicklung. Gerade bei der somatischen Gentherapie, die viele Jahre von kleinen Fortschritten und großen Fehlschlägen geprägt war, tut dieser Verweis not, um klinische Erfolge richtig einzuordnen. Von den Keimbahnmodifikationen ganz zu schweigen, die noch auf breite ethische Diskussion außerhalb der Fachzirkel warten.
Am Beispiel der CAR-T-Zelltherapie zeigt Autor Boris Fehse, warum dieser Ansatz bei bestimmten Erkrankungen des blutbildenden Systems gut funktioniert, und warum bei den (häufigeren) soliden Tumoren noch nicht. Neben Ansätzen zur direkten Zerstörung von Tumoren durch gentechnisch veränderte onkolytische Viren gibt es vielfältige Forschungsaktivitäten zur Genkorrektur monogener Erberkrankungen, deren Ansätze in vitro und in vivo zwar von teilweise spektakulären Behandlungserfolgen begleitet sind, aber auch angesichts schwerer (mitunter tödlicher wie im August 2022 bei Zolgensma) Nebenwirkungen stets eine sorgsame Nutzen-Risiko-Abwägung erfordern.
Grundlagenforschung hui, Anwendung pfui
Bei allem klinischen Potenzial - somatische Gentherapien sind komplex, helfen vergleichsweise wenigen, sind sehr teuer (2,3 Mio. Euro für ein Mittel gegen kindliche spinale Muskelatrophie) und erfordern beträchtliche präklinische und klinische Anstrengungen. Dass sich die international konkurrenzfähige Grundlagenforschung in Deutschland mit dem Schritt zur Translation schwer tut, moniert Fehse. Er fordert „neue Strukturen und Förderinstrumente“ (S. 179).
Wissensvermittlung reicht nicht
In Europa fristet die Grüne Gentechnik seit langem ein Schattendasein. Auch aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes 2018 zu genomeditierten Pflanzen wird sich daran voraussichtlich wenig ändern. Denn diese Technologie kämpft weiter gegen ein kulturelles Unbehagen im Zusammenhang mit industrieller Landwirtschaft an. In den Beiträgen zu diesem Thema wird dieses Unverständnis über wissenschaftlich nicht belegbare Haltungen und Einstellungen festgestellt und beredt beklagt. Es legt aber auch ein bei Expertinnen und Experten verbreitetes Defizit frei: nämlich die naive Überzeugung, dass der Mensch sich seine Urteile und Ansichten auf Grundlage gesicherter Fakten bildet. Zusätzliches Wissen kann sogar die vorhandene Polarisierung verschärfen. Dies hat die Impfdiskussion gezeigt und damit die Sozialpsychologie bestätigt.1)
Die Lektüre einzelner Beiträge lohnt die Mühen. Drei Beispiele mögen genügen. Die Grenzen eigenen Tuns erkennen, darüber reden und daraus Schlüsse ziehen, selbst wenn sie vielleicht unpopulär sind. Das tut die kurze Passage „Grenzen des Wissens und der Kommunikation“ (S. 224f.) zu den zwei Querschnittstechnologien Genome Editing und Einzelzellanalyse. Sie ist ein Muster an Selbstreflexion und Politikberatung.
Wir lernen, dass sich die Wissenschaft im Postgenomzeitalter von der überragenden Bedeutung der Gene verabschiedet hat („Die offene Zukunft des Gens“, S. 261f.), und dass die Wissenschaft begonnen hat, mit der Editierung des Epigenoms ein neues Forschungsfeld jenseits der DNA zu entdecken.
Entscheidend ist, was mit der Gentechnik gemacht wird
Einer Absage an Technikgläubigkeit gleich kommt das Fazit am Ende des 5. Gentechnologieberichts: Nicht die Gentechnik steht im Vordergrund, „sondern das, was daraus gemacht wird. Eine Gentechnikkommunikation, die sich als Wissenschaftsmarketing oder reine Wissenschaftskommunikation im Sinne einer Vermittlung von Faktenwissen alleine versteht, zielt damit am gesellschaftlichen Diskursbedarf vorbei“ (S. 520). Wenn die Arbeitsgruppe dies weiter beherzigt, darf man sich schon auf den 6. Gentechnologiebericht freuen.