Multiple Sklerose
Direktapplikation von Biopharmazeutika durch die Nase ins Gehirn
Multiple Sklerose, die häufigste neurologische Autoimmunkrankheit des Menschen, ist nicht heilbar. Oft verhindert die Blut-Hirn-Schranke die volle Wirksamkeit von Biopharmazeutika, die den Krankheitsverlauf verzögern oder abschwächen können. Unter Federführung des Fraunhofer IGB, Stuttgart, entwickelt ein europäisches Konsortium eine neue Technologie, durch die ein innovativer Wirkstoff zur verbesserten Behandlung der Multiplen Sklerose über die Riechschleimhaut in der Nasenhöhle unter Umgehung der Blut-Hirn-Schranke direkt ins zentrale Nervensystem transportiert wird.
Mit etwa 700.000 Betroffenen in Europa und schätzungsweise 2,3 Millionen weltweit ist Multiple Sklerose (MS) mit Abstand die häufigste Autoimmunkrankheit des Zentralen Nervensystems (ZNS). Die ersten Anzeichen einer MS treten oft schon im jungen Erwachsenenalter auf, ab dem 20. Lebensjahr oder sogar früher. Tatsächlich ist MS unter jungen Leuten die – nach Verkehrsunfällen – am weitesten verbreitete Ursache einer gesundheitlichen Behinderung. Die Krankheit beginnt oft mit einer Sehnerv-Entzündung, die eine Netzhaut-Schädigung im Auge bewirkt, und führt über Jahre oder Jahrzehnte hinweg zu einer Zunahme an neurologischen Funktionsstörungen wie Taubheitsgefühlen, Nervenschmerzen und Lähmungserscheinungen. Die ökonomischen Schäden durch MS sind gewaltig: Nach Untersuchungen der European Multiple Sclerosis Platform (EMSP), dem Dachverband der 40 europäischen MS-Fachgesellschaften in 35 Ländern, können 80 Prozent der Erkrankten innerhalb von 15 Jahren nach der Erstdiagnose – oft in der produktivsten Phase ihres Lebens – nicht mehr arbeiten.
Variable Krankheitsverläufe und keine Heilung von MS
Bei MS kommt es zu einer Schädigung der Myelinscheiden, welche die Nervenzellfortsätze im ZNS umhüllen. Dadurch wird die Übertragung der Nervensignale gestört, und am Ende stirbt die Nervenzelle ab. Es entstehen an vielen Stellen entlang der Nervenbahnen entzündliche Herde, die durch Magnetresonanztomografie gut nachweisbar sind und im Laufe der Zeit verhärten können – daher der Name „Multiple Sklerose“. Sicher ist, dass körpereigene Immunzellen an der Entstehung von MS beteiligt sind, doch die eigentliche Krankheitsursache ist immer noch rätselhaft. Es gibt bisher auch keine Heilung. Krankheitsverlauf und Symptome können sehr unterschiedlich sein: Die Behinderungen können relativ rasch oder über Jahrzehnte hinweg zunehmen und in Krankheitsschüben (die sich ganz oder teilweise wieder rückbilden können) oder schleichend-progressiv erfolgen (siehe Abbildung).
Durch Medikamente lassen sich einerseits die Symptome von MS lindern, andererseits der Krankheitsverlauf – manchmal für lange Zeit – verzögern oder sogar einfrieren. Je nach Typ und Ausprägung der Krankheit kommen neben entzündungshemmenden Glukokortikoiden auch immunsuppressive oder immunmodulierende Biopharmazeutika wie Beta-Interferone und monoklonale Antikörper zum Einsatz. Dabei ist für die Effektivität der Behandlung von entscheidender Bedeutung, dass der als „active pharmaceutical ingredient“ (API) bezeichnete biologisch aktive Wirkstoff seinen Zielort auch in ausreichender Konzentration erreicht.
Die Blut-Hirn-Schranke und ihre Umgehung
Im Falle von MS und anderen neurodegenerativen Erkrankungen wird die Wirksamkeit dieser oft sehr teuren biopharmazeutischen Medikamente dadurch eingeschränkt, dass die Blut-Hirn-Schranke den Transport des APIs über die Blutbahn oder nach oraler Einnahme über den Verdauungstrakt zum Zielort (also den geschädigten Bereichen des ZNS) erschwert oder verhindert. Diese Schranke besteht aus einer für viele Substanzen praktisch undurchlässigen Schicht von besonders fest miteinander verbundenen Endothelzellen um die Blutkapillaren herum.
Es gibt allerdings in der Blut-Hirn-Schranke an einigen Stellen Lücken, wo die von den Sinnesorganen ausgehenden Nerven in das Gehirn eintreten. So konnte man im Tiermodell zeigen, dass therapeutische Makromoleküle wie Neuropeptide, Insulin und andere Hormone, die normalerweise die Blut-Hirn-Schranke nicht durchdringen können, über den Riechnerv in der Nase rasch ins ZNS gelangen. Auch für den Menschen hat man den Transport von makromolekularen Therapeutika ins Gehirn nach „intranasaler“ Verabreichung bereits nachgewiesen. Die Wirkstoffe folgen dabei den Faserbündeln des Riechnervs, die von den Sinneszellen des olfaktorischen Epithels (der Riechschleimhaut) in der Nasenhöhle durch feine Kanäle des Siebbeins, eines Knochens, der die Nasenhöhle gegen den Hirnschädel begrenzt, zum Riechkolben im Großhirn führen (siehe Abbildung).
Das Projekt N2B-Patch im Horizon-2020-Programm der EU
Unter Federführung des Fraunhofer-Instituts für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB in Stuttgart entwickelt ein aus elf Partnern bestehendes multidisziplinäres Konsortium aus acht europäischen Ländern (Deutschland, Tschechien, Griechenland, Italien, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Schweiz) eine Technologie, um APIs zur regenerativen Behandlung der Multiplen Sklerose intranasal verabreichen zu können. Über den Beginn des mit über 5,3 Millionen Euro für vier Jahre im „Horizon 2020“-Programm der Europäischen Union geförderten Verbundprojektes „N2B-Patch“ („Nose-to-Brain Delivery of an Active Pharmaceutical Ingredient via the Olfactory Region“) haben wir 2017 bereits berichtet (N2B-patch: Umleitung für die Blut-Hirn-Schranke). Neben dem Wirkstoff – einem innovativen Biopharmazeutikum als API für die Behandlung von MS – wird das N2B-Patch-Projekt drei entscheidende Arbeitsergebnisse liefern (siehe Abbildung):
„Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fraunhofer IGB konzentrieren sich auf die Formulierung der Partikel, die den Wirkstoff enthalten, und auf das Einbringen der Partikel in das Gel“, erklärte Dr. Carmen Gruber-Traub, die Koordinatorin des N2B-Patch-Projektes und Leiterin der Arbeitsgruppe am Stuttgarter IGB. Durch die galenische Formulierung werden die empfindlichen Biomoleküle, aus denen der Wirkstoff besteht, geschützt und behalten ihre biologische Aktivität. Das nur millimetergroße Patch, eine Art Gelpflaster, muss vom Arzt mithilfe der dafür entwickelten Applikationsvorrichtung minimalinvasiv an den Wirkort – die Riechschleimhaut im nur schwer zugänglichen hintersten Teil der Nasenhöhle – gebracht werden. Dieser Applikator stellt eine Kombination aus einem handelsüblichen Endoskop mit einem speziellen Mischsystem dar, durch das verhindert wird, dass sich das Gel verfestigt, bevor es an der vorgesehenen Stelle platziert worden ist. Der Wirkstoff wird aus dem Patch über einen längeren Zeitraum hinweg an die Riechschleimhaut abgegeben und über die Kanäle für die Riechnervenfasern im Siebbein zum Gehirn transportiert. Das Gel löst sich von selber auf. Wenn eine langfristige Therapie erforderlich ist, kann einfach ein neues Patch durch die Nase eingeführt werden.
Am Ende des jetzigen Verbundprojektes sollen der Machbarkeitsnachweis („Proof of Concept“) und die präklinische Validierung dieses innovativen Ansatzes zur wirksameren Behandlung der Multiplen Sklerose stehen. Die Weiterentwicklung über die klinische Validierung bis zur Registrierung und zum marktfähigen Produkt kann dann zusammen mit der Pharmaindustrie erfolgen. Gruber-Traub betonte, dass das im N2B-Patch-Projekt entwickelte Konzept der Medikamentenapplikation über die Nase ins Gehirn mit anderen Wirkstoffen und entsprechend angepassten Formulierungen auch für neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson- und Alzheimer-Krankheit gelten kann. Nach ihren Worten bietet die Koordination eines Konsortiums im Rahmen eines EU-Projektes und die länderübergreifende Zusammenarbeit mit Partnern aus verschiedenen Bereichen auch die einmalige Chance, ein Forschungsthema voranzubringen, ein neues Netzwerk aufzubauen und sich neuen Herausforderungen zu stellen.