Infektionsbekämpfung
Akkordeon-Gene als potenzielle Marker für krankheitserregende Eigenschaften
Um überleben zu können, müssen Bakterien auf Veränderungen der Umgebung reagieren. Dies geschieht teilweise durch eine Anpassung des genetischen Materials, indem zum Beispiel einzelne Bereiche vervielfältigt und auch wieder verkürzt werden. Die Arbeitsgruppe von Dr. Simon Heilbronner vom Interfakultären Institut für Mikrobiologie und Infektionsmedizin der Universität Tübingen hat jetzt gezeigt, dass diese sogenannten Akkordeon-Gene häufig im Bakterium Staphylococcus aureus auftreten und hofft, dass sie in Zukunft als Marker für dessen krankheitserregende Eigenschaften dienen können.
Staphylococcus aureus ist ein weit verbreitetes, kugelförmiges Bakterium. Es besiedelt oft Haut und Schleimhäute des Menschen und ist in der Regel harmlos. Einige Stämme sind jedoch invasiv, das heißt sie sind in der Lage, Zellschichtbarrieren zu überwinden und können so lokale Entzündungen (Abszesse) aber auch lebensbedrohliche Erkrankungen wie Herzentzündungen oder Blutvergiftungen verursachen. Diese schwerwiegenden Folgen treten vor allem dann auf, wenn das Immunsystem des Wirts geschwächt ist oder das Bakterium einen Weg findet, den Abwehrmechanismen zu entkommen. Letzteres schafft es durch Anpassung seines genetischen Materials. Befinden sich zum Beispiel andere Bakterien in der Nähe, die vorteilhafte Gene besitzen, kann es zu einem Austausch der genetischen Information zwischen den Organismen kommen (horizontaler Gentransfer). Ist dies nicht möglich, kann das Bakterium sein genetisches Material neu arrangieren, indem es zum Beispiel Abschnitte anders positioniert oder vervielfältigt.
Akkordeon-Gene ermöglichen Anpassung
Bakterien sind einzellige Organismen und vermehren sich durch einfache Zellteilung, woraus identische Nachkommen hervorgehen. Mithilfe von Gen-Duplikation und -Amplifikation (GDA) können einzelne Zellen ihr genetisches Material jedoch verändern. Dieser Mechanismus ist entscheidend für die Anpassung der Bakterien an ihre Umgebung und hat einen großen Einfluss auf ihre Evolution. Eine Vervielfältigung einzelner Gene führt zu einer größeren Menge des Genproduktes, also des synthetisierten Proteins, was Vorteile mit sich bringen kann. Die Kopienzahl in den Nachkommen einer Ursprungszelle unterscheidet sich dabei stark und kann auf einige Hundert ansteigen. Abhängig von den Umgebungsbedingungen dehnen sich die Genabschnitte aus oder ziehen sich wieder zusammen, vergleichbar einem Akkordeon.
Die Arbeitsgruppe von Dr. Simon Heilbronner in Tübingen untersucht seit einigen Jahren das Vorkommen von Akkordeon-Genen in Staphylococcus aureus. Während seiner Zeit als Doktorand in Dublin stieß der Wissenschaftler erstmals in klinischen Proben aus Patienten auf dieses Phänomen und stellte sich die Frage: „Ist dies ein Mechanismus, mit dem sich Krankheitserreger mit ihrem Wirt auseinandersetzen?“ Die bereits in den 1970er Jahren in Bakterien wie E. coli nachgewiesenen Akkordeon-Gene werden hauptsächlich mit Antibiotika-Resistenz, Schwermetall-Toleranz oder Überleben unter ungewöhnlichen Bedingungen in Verbindung gebracht, aber nur selten mit der Anpassung an einen Wirt. Unterstützt von einem Marie-Skłodowska-Curie-Stipendium der Europäischen Union ging Simon Heilbronner nach Tübingen, um zu untersuchen, wo und wie häufig Akkordeon-Gene im Genom von S. aureus auftreten, und ob sie in Zusammenhang mit den krankheitserregenden Eigenschaften des Bakteriums stehen.
In Krankenhäusern sind viele verschiedene S. aureus-Stämme verbreitet, die sich stark in ihrer Pathogenität unterscheiden. Grundsätzliches Ziel der Arbeiten ist es herauszufinden, ob sich Akkordeon-Gene als Marker für einzelne pathogene Eigenschaften eignen. „Es wäre sehr interessant vorhersagen zu können, wie aggressiv ein Stamm ist. Man ist relativ verzweifelt auf der Suche nach solchen Markern. Für Resistenzen kann man dies gut vorhersagen, bei Invasivität kennt man die Mechanismen zu wenig. Dazu machen wir die Grundlagenforschung“, erklärt der Wissenschaftler, der seit 2018 eine eigene Gruppe am Interfakultären Institut für Mikrobiologie und Infektionsmedizin leitet.
Starke Vervielfältigung einzelner Gene in S. aureus
Zu diesem Zweck hat sein Team die DNA-Sequenzen von fast 350 S. aureus-Stämmen analysiert, die aus Klinikpatienten isoliert wurden. Es konnte mehrere Bereiche identifizieren, die hochrepetitive Elemente enthalten. Unter ihnen befindet sich das csa1-Gen, das für ein Protein auf der Bakterienoberfläche codiert. Abhängig von der Kopienzahl produzieren die Stämme eine deutlich erhöhte Proteinmenge. Diese löst in Zellkulturexperimenten eine verstärkte Ausschüttung von immunmodulatorischen Botenstoffen (zum Beispiel Interleukin-8) aus, was zu einer gefährlichen Überreaktion des Immunsystems führen kann. Im Tiermodell wurde bestätigt, dass sich der csa1-Genbereich bereits innerhalb des ersten Tages nach einer Infektion mit S. aureus stark verändert. Da sich die Bakterien alle 30 Minuten teilen, reichen schon 24 Stunden aus, um eine Vielzahl an unterschiedlichen Nachkommen hervorzubringen.
Die genaue biologische Funktion des vervielfältigten csa1-Bereichs ist noch unklar, eine verstärkte Invasivität konnte nicht nachgewiesen werden. Die csa1-Proteine sind allerdings sehr immunogen, und sowohl Menschen als auch Tiere bilden Antikörper gegen sie. Es ist daher möglich, dass während der Amplifikation infolge von Mutationen eine erhöhte Variabilität der Proteine entsteht, die es dem Bakterium erleichtert, dem Immunsystem zu entkommen.
Die Forschung zu Akkordeon-Genen in Krankheitserregern befindet sich noch in den Anfängen, da es schwierig ist, diese mit Standardmethoden nachzuweisen. Die im Juli in Nature Communications publizierten Daten zeigen erstmals, dass dieser Mechanismus im Krankheitserreger S. aureus weit verbreitet ist. Zurzeit konzentriert sich die Gruppe von Simon Heilbronner vor allem auf die Aufklärung der biologischen Relevanz. „Gibt es Bereiche, die mit bestimmten Eigenschaften einhergehen?“, fragen sich die Wissenschaftler. Die Erkenntnisse können helfen, die spezifische Anpassung von S. aureus an den Wirt zu verstehen und zielgerichtete Wirkstoffe gegen ihn zu entwickeln.
Neues Exzellenzcluster in Tübingen
Die Forschung ist eingebettet in das seit 2019 von Bund und Ländern geförderte Exzellenzcluster „Kontrolle von Mikroorganismen zur Bekämpfung von Infektionen“, ein Zusammenschluss Tübinger Arbeitsgruppen der Universität und des Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie aus unterschiedlichen Disziplinen der Klinik, Molekularbiologie und Bioinformatik. Ziel ist die Entwicklung neuer Therapieformen zur Verdrängung schädlicher Bakterien aus dem menschlichen Mikrobiom (Gesamtheit der Mikroorganismen), ohne Breitband-Antibiotika einsetzen zu müssen, denn diese schädigen häufig auch die nützlichen Mikroorganismen und fördern zudem Antibiotika-Resistenzen. „Gute Marker, um festzustellen, welche Linien wir überhaupt loswerden müssen, wären ein erster Schritt“, erklärt Simon Heilbronner. Hierfür könnten Akkordeon-Gene geeignet sein.
Interessanterweise haben die Untersuchungen gezeigt, dass es in S. aureus neben der Vervielfältigung in noch größerem Maße zur Auslöschung einzelner Gene kommt. Auch dies könnte ein Zeichen für eine Anpassung an die Umgebung sein. In einzelnen Nischen (zum Beispiel Nase, Rachen, Achseln) werden bestimmte Eigenschaften nicht mehr benötigt und deshalb aus der genetischen Information entfernt. In anderen Nischen hingegen sind eventuell gerade diese Gene hilfreich und deshalb amplifiziert. Um solche nischenspezifischen Virulenzfaktoren identifizieren zu können, ist eine erneute Analyse der S. aureus-Sequenzen unter Berücksichtigung des Herkunftsortes der Stämme nötig. Dieser Ansatz eröffnet weitere Möglichkeiten, Angriffspunkte für eine gezieltere und damit schonendere Bekämpfung unerwünschter Bakterien zu finden.