Digitalisierung
Augencheck für alle – schnell und einfach dank Künstlicher Intelligenz
Viele Augenerkrankungen sind heutzutage schon gut behandelbar, falls sie rechtzeitig erkannt werden. Aber wer kennt das nicht? Monatelanges Warten auf einen Augenarzttermin ist an der Tagesordnung – falls man überhaupt in einer Facharztpraxis unterkommt. Dem will das Tübinger Start-up eye2you Abhilfe schaffen: Es hat mobile Netzhautuntersuchungen mittels Smartphone und KI entwickelt, die auch Hausärzte, Diabetologen oder Pflegekräfte anwenden und damit Sehkraft nachhaltig schützen können.
Was eines unserer wichtigsten Sinnesorgane - die Augen - angeht, so ist eine regelmäßige Vorsorge besonders wichtig. Beispielsweise kann die Gesundheit der Netzhaut mit ihrem empfindlichen, mehrschichtigen Nervengewebe dank einer regelmäßigen Augenspiegelung (der Funduskopie), bei der der Augenhintergrund beleuchtet und das reflektierte Bild mit einer Lupe betrachtet wird, heutzutage lange erhalten werden. Trotzdem erkranken immer noch viel zu viele Menschen an solch behandelbaren Augenerkrankungen: Schätzungen gehen davon aus, dass allein in Deutschland in diesem Zusammenhang bereits eine Million Menschen erblindet bzw. teilerblindet sind, neun Millionen erste Schäden erlitten haben und etwa 30 Mio. als Risikopatienten gelten – hauptsächlich Diabetiker und Menschen, die älter als 55 Jahre sind.1
Hauptgrund dafür ist eine eklatante Versorgungslücke in der Augenheilkunde: Dem wachsenden Bedarf an über 40 Mio. Untersuchungen pro Jahr stehen aktuell bei uns nur etwa 8.000 Fachärztinnen und Fachärzte gegenüber – die Fachpraxen können also die dringend nötigen regelmäßigen Vorsorgen bei Weitem nicht abdecken. Dabei bringen den Betroffenen rechtzeitige Erkennung und Therapie drohender Erblindungen nicht nur unbezahlbare Lebensqualität, sondern vermeiden auch hohe Folgekosten für das Gesundheitssystem – viele Milliarden Euro pro Jahr, etwa 35.000 Euro jährlich pro geschütztem Augenlicht.2
Vorsorge-Check für die Augen ohne lange Anfahrt und Wartezeit auf Termine
Kein tragbarer Zustand, wie die drei Experten für Kognitive Systeme und Künstliche Intelligenz (KI) Dr. Jörn-Philipp Lies, Dr. Björn Browatzki und Prof. Dr. Christian Wallraven finden und deshalb im April 2020 gemeinsam das Medizintechnik-Start-up eye2you aus dem Universitätsklinikum Tübingen heraus gründeten. Geschäftsidee und Vision des jungen Unternehmens ist es, einfachere und schnellere Netzhautuntersuchungen mittels Smartphone und KI zu entwickeln, sodass Vorsorge-Checks künftig nicht mehr zwingend nur in Facharztpraxen, sondern auch bei medizinischen Primärversorgern wie Hausärzten, Diabetologen oder Pflegediensten durchgeführt werden können.
„Es begann damit, dass wir uns in einem Forschungsprojekt mit der Frage beschäftigt haben, wie man auf Bildern der Netzhaut mit Hilfe von KI Krankheiten erkennen kann“, berichtet Lies von der Ideenfindung. „Im Lauf der Zeit haben wir dann die Erkenntnisse dazu verwendet, um einen Prototyp für eine einfach anzuwendende, sichere Untersuchung des Augenhintergrunds zu bauen und uns dann gefragt, wie wir aus diesem zudem noch eine mobile Lösung machen könnten, um Menschen zu versorgen, die nicht so einfach zum Augenarzt kommen – sei es aus praktischen Gründen, etwa weil der Weg zu weit und zu beschwerlich ist oder weil sie schlichtweg keinen Termin bekommen. Mobile Lösungen gab es zwar schon, aber auch diese konnten nur von Fachärzten angewendet werden. Und genau das wollten wir ja nicht.“
System ermöglicht Untersuchung ganz ohne Weittropfen
So entwickelten die Tübinger Forscher ein kosteneffizientes, mobiles Equipment, das aus einem Smartphone, einem Funduskop – dem Augenspiegel zur Untersuchung des Augenhintergrunds - und einem KI-System besteht. Das System ist einfach und selbsterklärend anzuwenden und führt die Analyse in Echtzeit im Gerät schon während der Aufnahme durch. Das Ergebnis wird dann auf dem Smartphone angezeigt. Die KI wurde dabei so trainiert, dass eine Vielzahl an Augenerkrankungen erkannt werden können, darunter diabetische Retinopathie, Grüner Star (Glaukom) oder Makuladegenerationen. Außerdem liefert sie auch Hinweise auf systemische Krankheiten, beispielsweise des Herz-Kreislaufsystems, Diabetes, Demenz oder COVID-19-Folgen. Die Daten werden jeweils offline auf dem Smartphone verarbeitet, sodass der Datenschutz gewährleistet ist.
Und ein weiterer großer Vorteil: Das System kann Bilder ohne das sonst notwendige Weittropfen – der Behandlung mit pupillenerweiternden Medikamenten – aufnehmen, was die Untersuchung wesentlich schneller und angenehmer macht. „In der Aufnahme erhält die Ärztin oder der Arzt zum einen eine farbliche Markierung von auffälligen Bereichen – Schlagwort ‘Explainable AI’, zum anderen eine Angabe zur wahrscheinlichen Erkrankung“, erklärt Lies. „Also beispielsweise ‘leichter Verdacht auf Glaukom’ oder ‘sehr starker Verdacht auf Glaukom’, gegebenenfalls auch mit einer Wahrscheinlichkeit, zum Beispiel ‘80 Prozent Verdacht auf Glaukom’. Hier arbeiten wir noch mit Ärztinnen und Ärzten daran, wie wir das am verständlichsten für Anwender umsetzen.“ Selbstverständlich will das System keinen Augenarzt ersetzten, sondern diese nur entlasten, wie der Experte betont: „Es gibt so viele Menschen mit Risikofaktoren für Netzhauterkrankungen, Tendenz steigend. Für diese könnte man den regelmäßigen Augen-Checkup gut bei den Primärversorgern ansiedeln, denn dort sind die Patientinnen und Patienten ja sowieso immer wieder einmal. Mit entsprechendem Anfangsverdacht wird man dann gleich zum Augenarzt überwiesen.“
Explainable Artificial Intelligence (AI):
Mit „Explainable Artificial Intelligence (AI)“, also „Erklärbarer Künstlicher Intelligenz“ ist im Zusammenhang mit Deep-Learning-Systemen die Tatsache gemeint, dass eindeutig nachvollziehbar ist, auf welche Weise die künstlichen Systeme zum Ergebnis kommen, es sich also um keine „Black Box“ handelt.
Ausstattung für jede Praxis erschwinglich
Bereits 2020 haben die Gründer mit Unterstützung einer EXIST-Förderung und in Kooperation mit der Universitäts-Augenklinik Tübingen mit konkreten Tests ihres so genannten Retinacorders begonnen. „Eine erste Studie an der Klinik haben wir aktuell gerade gestartet, um herauszufinden, wie schnell, einfach, und mit welcher Qualität die Checks durchgeführt werden können. Leider sind die klinischen Tests wegen der Corona-Pandemie noch nicht so weit, wie wir es uns wünschen würden“, sagt der Wissenschaftler. „Aber wir haben die Zeit genutzt, um die technische Entwicklung noch weiter voranzutreiben und mit Ärztinnen und Ärzten über deren Bedürfnisse und Anforderungen zu sprechen. In diesem Zusammenhang wollen wir im kommenden Herbst in Usability-Studien noch weitere Erkenntnisse sammeln.“
Für die Ausstattung müssten die Primärversorger keine großen Investitionen tätigen: Ein Funduskop, dessen Anschaffungspreis im niedrigen tausend Euro-Bereich liegt plus extra Smartphone und die eye2you-Software. Wie das System in der Praxis umgesetzt werden könnte, wird derzeit mit Krankenkassen und Ärztevereinigungen geklärt. Denn eine flächendeckende Anwendung würde durchaus auch im Interesse der Krankenkassen sein: Bestätigt sich die Zuverlässigkeit des Systems in den klinischen Untersuchungen weiter, so ist dies nicht nur im Sinne von Ärzten und Versicherten, sondern auch wirtschaftlich und innovativ.
Plattformtechnologie und intelligentes Werkzeug
Eine Marktzulassung ist für Anfang 2023 geplant. Bis dahin haben sich die Forscher noch einiges vorgenommen: „Wir wollen selbstverständlich durch Studien sicherstellen, dass auch ein Versorger, der kein Facharzt für Augenheilkunde ist, eine zuverlässige Diagnose stellen kann“, so Lies. „Und wir wollen das System zu einer Plattformtechnologie für verschiedene Indikationen ausbauen. Aber noch einmal: Es soll Ärzte nicht ersetzen, sondern diesen als intelligentes Werkzeug zur Hand gehen; indem wir die Diagnosemöglichkeiten der Primärversorger erweitern und schlagkräftiger machen.“ Die eye2you-Geschäftsidee hat schon im ersten Jahr nach Gründung des Start-ups viele überzeugt, wie zahlreiche Auszeichnungen und Preise, darunter der Gründerwettbewerb Digitale Innovationen, zeigen.
Unterstützt wird die junge Firma nicht nur von der Tübinger Universitäts-Augenklinik und verschiedenen Fachärzten, sondern auch von vielen anderen Partnern wie beispielsweise den Diabetologen Hessen und dem CyberValley.