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Experteninterview

Aus der Natur gelernt für Innovation

Die Übertragung von Phänomenen aus der Natur auf die Technik findet man in zahlreichen Anwendungen. Welche Innovationen aus Baden-Württemberg kommen, und wie in Zukunft junge Innovatorinnen und Innovatoren von der Idee der Bionik begeistert werden sollen, berichtet Prof. Dr. Peter M. Kunz im Interview mit BIOPRO.

Ein Mann mit Bart und Brille sitzt auf einer Treppe und hat ein Smartphone in der Hand.
Prof. Dr. Peter M. Kunz organisiert alle 2 Jahre den Bionik-Kongress. © Prof. Dr. Peter M. Kunz

Herr Prof. Kunz, wie definieren Sie den Begriff Bionik?

Bionik ist ein zusammengesetztes Wort aus Biologie und Technik. Es gibt eine ausführliche Definition in der VDI-Richtlinie 6220 Blatt 1. Meine selbsterklärende Definition ist: „Aus der Natur gelernt für Innovationen“. Das ist umfassender als das, was in der genannten Richtlinie, an der ich mitgewirkt habe, festgelegt wurde. Wichtig ist mir, dass wir junge Menschen ermutigen - „Aus der Natur gelernt für Innovation“ -, einen eigenen Beitrag zu leisten. Dazu ist nur ein überschaubares methodisches Instrumentarium nötig. Die Methode besteht darin, dass man eine komplexe Fragestellung systematisch in ihre einzelnen Elemente zerlegt und nach dem alles entscheidenden Bottleneck sucht. Wenn man - ich nenne das, des „Pudels Kern“ finden -, diesen „kurz + knackig“ beschreiben kann, findet sich zu diesem Sachverhalt eine Analogie in der Natur.

Können Sie Beispiele für bionische Entwicklungen und Innovationen nennen?

Ein besonders schönes Beispiel ist die Entwicklung des quasi geräuschlosen Lüfters der Ventilatorenfirma Ziehl-Abegg aus Künzelsau. Die Geschäftsleitung hatte den Entwicklungsingenieurinnen und -ingenieuren die Aufgabe gegeben, einen geräuschlosen Lüfter zur Kühlung der Beleuchtungsstrahler für Konzertsäle zu entwickeln. Wir kennen alle noch das unangenehme Brummgeräusch der Beamer. Bei Ziehl-Abegg haben sich die Ingenieurinnen und Ingenieure zusammengesetzt und den Ventilator gedanklich in seine Bestandteile zerlegt. Entscheidend für die Geräuschentwicklung sind die durch die Ventilatorblätter erzeugten Luftwirbel, die hinter dem Ventilatorflügel geräuschvoll zusammenbrechen. Die Ingenieurinnen und Ingenieure sind dem Gedankenspiel vom Flügel zum Fliegen gefolgt und fragten sich, wo es in der Natur geräuschloses Fliegen gibt.

Recht schnell ist ihnen die Eule eingefallen, die nachts ihre Beute geräuschlos anfliegen können muss, damit diese sich nicht vor ihnen verkriechen kann. Im Anschluss haben sie im Wald nachts mit Infrarotkameras Flugaufnahmen von Eulen gemacht, um für ihre Simulationen der Luftwirbelbildung Bewegungsbilder zu bekommen. Sie haben dabei das Prinzip untersucht, wie die Natur die Luftwirbelbildung verhindert. Wie Otto Lilienthal den Auftrieb als Prinzip für den Gleitflug aus der Natur gelernt hat, haben die Entwicklungsingenieurinnen und -ingenieure die Flügelenden der Eule nicht „kopiert“, sondern die aerodynamischen Effekte „kapiert“. So kamen sie zu ihrem technischen Produkt und waren bis zur Veränderung der Beleuchtungstechniken in sehr vielen Konzertsälen auf der Welt vertreten. Heute sind die quasi geräuschlosen Lüfter von Ziehl-Abegg übrigens in Wärmepumpenanlagen eingesetzt.

Man sieht Ventilatorflügel sowie Teile eines Eulenflügels nebeneinander.
Bei dem Axialventilator FE2owlet wurde der Eulenflügel als Vorbild genommen und dessen Kontur und Struktur auf den Ventilatorflügel übertragen. © Ziehl-Abegg

Von einem großen Druckmaschinenhersteller war ich von den Sicherheitsingenieuren des Unternehmens angesprochen worden, ob es für das Brünieren der blanken Metalloberflächen eine gefahrlose Alternative in der Natur gibt? Beim Brünieren werden die Bauteile in 80 oC heiße Salpetersäure (= Gefahrstoff) getaucht. Wir haben uns in theoretischen Wirkmodellen die chemischen Prozesse veranschaulicht, um zu verstehen, welche Reaktionen an der Metalloberfläche infolge der hochreaktiven Säure ablaufen, die zur Schwarzfärbung führen. Des „Pudels Kern“ ist die Aufoxidierung von u. a. Eisenhydroxit zum schwarzen Magnetit auf der Metalloberfläche. Wir haben dann nur noch in der Literatur nachgeschaut, welches Oxidationspotenzial heiße Salpetersäure hat und in der Natur einen Stoff mit dem gleichen Oxidationspotenzial gesucht. Bei der Suche sind wir schnell auf Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin gestoßen. Im Labor konnten wir zeigen, dass man bei Umgebungstemperatur Metalloberflächen gefahrlos für die Mitarbeitenden mit Dopamin brünieren kann. In der Praxis der Oberflächentechnik wollte (bisher) keiner den erheblichen Preisunterschied bezahlen. Ich will mit diesem Beispiel zeigen: auch in solchen extremen Praxisfällen hat die Natur Lösungen für die technische Anwendung parat.

Gibt es auch Anwendungen im Gesundheitsbereich?

In dem Schema sieht man oben links eine Holzwespe, die in den Untergrund bohrt. In der Mitte ist dieser Bohrer, der in etwa die Form eines spitzzulaufenden Kegels hat, mit einer Lupe gezeigt. Dabei wird deutlich, dass er aus drei Teilen besteht (in der Länge geteilt).
Schematischer Überblick über den Zyklus des Pendelhubprinzips: Oben: Hymenoptera (Hautflüglern), wie z. B. Holzwespen, verwenden eine spezielle, nicht rotierende Bohrtechnik. Mitte: Die Löcher werden mit dem Legebohrer (englisch: ovipositor tip) tief in das Holz oder andere Untergründe gebohrt, um die Eier in den Baum einzubringen. Unten: Der Vorgang erfordert fast keine axiale Kraft und kein Drehmoment. Der Legebohrer der Wespe besteht aus drei Teilen, die sich zyklisch in einer Pendelbewegung bewegen, um Holz abzuraspeln. © Fraunhofer IPA/K. Nakajima

Ein Beispiel ist das Gecko®-Tape der Firma Gottlieb Binder GmbH aus Holzgerlingen. Hier haben die Entwickelnden nach einer haftenden und wieder lösbaren Verbindung gesucht, die quasi unendlich funktioniert. Das entwickelte Gecko®-Tape haftet insbesondere auf glatten Oberflächen und kann beliebig oft verwendet werden. Das Vorbild aus der Natur, der Gecko, kann sich mit seinen Hafthärchen an den Füßen auf beispielweise Glasflächen festhalten und an der Decke gehen. Das Tape benötigt im Gegensatz zu dem auch durch Naturbeobachtung entwickelten Klettverschluss kein dediziertes Gegenstück. Es wird im medizinischen und orthopädischen Bereich als rückstandsfreie und wieder verwendbare Lösung zur Befestigung von Schläuchen, Kanülen, Instrumenten, Sensoren usw. verwendet. Eine weitere Anwendung ist die Befestigung von WLAN-Routern und Displays an Glasscheiben oder ähnlichem.

Weitere Beispiele sind bei Prof. Dr. Oliver Schwarz vom Fraunhofer IPA in Stuttgart zu finden. Von der Holzwespe inspiriert, hat das Team einen Pendelhub-Bohrer entwickelt, der „rechteckige Löcher“ bohren kann, den sogenannten Sirex-Bohrer. Rechteckige Löcher verhindern beispielsweise, dass sich Implantate „verdrehen“ können. In seinem Bereich gibt es eine ganze Reihe von Entwicklungen, die kurz vor der Markteinführung stehen.

Sie haben gerade das „Netzwerk für Bionische Entwicklungen Baden-Württemberg e.V.“ gegründet. Was ist der Zweck?

PD Dr.-Ing. Thomas Stegmaier vom Deutschen Institut für Textil- und Faserforschung (DITF) und ich haben uns schon mehrfach auf Veranstaltungen zum Thema „Bio“ getroffen und uns darüber ausgetauscht, wie wir das Thema „Bionik im erweiterten Sinne“ in die Köpfe insbesondere junger Menschen bringen können. Wir und etliche andere, die sich mit dem Thema „Aus der Natur lernen“ beschäftigen, sehen, dass in der Natur noch ein riesiges Feld für Innovationen existiert, das bisher nur wenig genutzt wird. In diesem Sinne vernetzen wir uns, um unsere Erfahrungen auszutauschen und in verschiedenen Aktionen das methodische Instrumentarium des „Bionischen Entwickelns“ an neugierige, insbesondere junge Menschen weiterzugeben. Vor nicht einmal einem halben Jahr hatten wir die Idee, zusammenzustellen, welche bionischen Kompetenzen es in Baden-Württemberg gibt. Ich habe daraufhin Kolleginnen und Kollegen in Unternehmen, Instituten und Hochschulen angesprochen, ob sie interessiert sind und gemeinsam mitmachen - entsprechend dem Leitsatz „Aus der Natur gelernt für Innovationen“ -, ihr Wissen und ihre Methoden des „Bionischen Entwickelns“ in die Köpfe insbesondere unserer Nachwuchskräfte zu bringen. Für die Gründung eines eingetragenen Vereins sind 7 Gründungsmitglieder notwendig; bei der Gründungsversammlung am 15. Oktober 2024 waren wir 23 Personen.

Wir möchten über das Netzwerk generell Mitarbeitende in Unternehmen ansprechen, die in ihre Arbeit die Denkweise „Aus der Natur gelernt für Innovationen“ integrieren wollen. Wir werden unsere Erfahrungen des eigenständigen bionischen Entwickelns unter uns austauschen und gemeinsame Projekte machen, um diese Denkweise zu verbreiten und damit zu befördern.

Wir wollen Hilfe zur Selbsthilfe leisten, also vielleicht an einem Beispielfall ein Unternehmen begleiten, eigene Erfahrungen mit bionischem Entwickeln zu machen, um mit diesen Erfahrungen weitere Projekte eigenständig angehen zu können. Dazu werden wir sicherlich auch Schulungs- und Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stellen. Schließlich wollen wir an Bionik interessierte Menschen miteinander vernetzen und einen Erfahrungsaustausch in speziellen Arbeitsgruppen generieren. Und wir wollen bionisch entwickelte Innovationen aus Baden-Württemberg breiter sichtbar machen.

Welche Basis bietet dazu der nächste, der 6. Bionik-Kongress Baden-Württemberg am 06. Mai 2025 im John Deere Forum Mannheim?

Man sieht eine Wärmepumpe in einem Garten stehen.
Die geräuschlosen Ventilatoren werden in Wärmepumpen integriert. © Ziehl-Abegg

Der Bionik-Kongress, den ich alle zwei Jahre organisiere, hat als Zielgruppe junge Menschen, die eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen haben. Wenn sie noch unter 30 Jahre alt sind, brauchen sie nur eine Verbindlichkeitsgebühr von 30 Euro zu bezahlen. Beim letzten Bionik-Kongress hatten wir 70 Teilnehmende in diesem Cluster, wovon acht als Ingenieure inzwischen bei den Firmen gelandet sind, die sich auf dem letzten Bionik-Kongress 2023 präsentiert haben. Dazu muss man wissen, dass dieser Kongress komplett ohne PowerPoint-Vorträge abläuft. Anstelle von Vorträgen werden die eigentlich Vortragenden von mir, bzw. dem Publikum, vormittags zu den sechs Themenblöcken interviewt. Unterbrochen werden die Interviews durch eine bewegte Pause, in der die Teilnehmenden eine spezifische Werksführung durch das Traktorenwerk von John Deere, unserem Hauptsponsor, mitmachen dürfen. In den nachmittäglichen dreistündigen Foren lernen die Teilnehmenden (maximal 25 Personen pro Forum) spielerisch in wettbewerblichen Projektaufgaben, wie die jeweiligen Unternehmen, die die Foren sponsern, ihre Innovationen bionisch entwickelt und am Markt platziert haben. Das Netzwerk ist der Veranstalter des Kongresses. Durchgeführt wird er von Bionik Mannheim.

Es freut mich besonders, dass unsere Wirtschaftsministerin Frau Dr. Nicole Hofmeister-Kraut die Schirmherrschaft für den kommenden Bionik-Kongress Baden-Württemberg übernommen hat und nun auch einen „Bio-Award Baden-Württemberg: Aus der Natur gelernt für Innovationen“ übergeben wird. Eine Arbeitsgruppe des Netzwerks wird den Award noch in im Jahr 2024 ausschreiben: Angedacht ist, dass sich Privatpersonen, aber auch Unternehmen und Forschungseinrichtungen, aus allen Fachrichtungen bewerben können, also auch aus den Bereichen Medizintechnik oder Phytopharmaka. Sollten mehr als acht Bewerbungen eingehen, wählt die Arbeitsgruppe des Netzwerks die Einreichungen aus. Wieso acht? Am Gala-Abend am 05. Mai 2025 vor dem Bionik-Kongress sollen acht Personen ihre Innovationen live haptisch und optisch dem Publikum präsentieren können. Im Gegensatz zu anderen Awards sollen die stimmberechtigten Teilnehmenden am Gala-Abend die Innovation auswählen, welche sie persönlich am meisten angesprochen hat.

Ich denke daran, dass alle Einreichungen über das Netzwerk in entsprechender Weise an die Fachwelt, aber auch an die interessierte Öffentlichkeit, nicht nur im Internet, sondern auch in diversen allgemeineren Publikationen bekannter gemacht werden. Durch diese Aktion wollen wir „Bionisches Entwickeln“ in Baden-Württemberg gut sichtbar machen.

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/aus-der-natur-gelernt-fuer-innovation