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Bilanzierung und Handlungsempfehlungen: Der vierte Gentechnologiebericht der BBAW

Im neuen Gentechnologiebericht zieht die interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) nicht nur Bilanz der gentechnologischen Entwicklungen in Deutschland während der letzten Jahrzehnte, sondern diskutiert auch die mit diesen Technologien in Zukunft verbundenen gesellschaftlichen, rechtlichen und ethischen Herausforderungen. Hohe Aktualität erhält der Bericht durch die Kontroverse um das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Crispr/Cas9-Genome-Editing und die danach aus China bekannt gewordenen umstrittenen Genomeingriffe beim Menschen.

Umschlagsbild Vierter Gentechnologiebericht 2018 © Nomos Verlag, Baden-Baden

Der am 29.10.2018 vorgestellte vierte Gentechnologiebericht sollte eigentlich den Abschluss der 18-jährigen Arbeit der „interdisziplinären Arbeitsgruppe (IAG) Gentechnologiebericht“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften markieren. Doch angesichts der ungebremst dynamischen Entwicklungen und ihrer weitreichenden, schwer vorhersehbaren und kontrovers diskutierten Konsequenzen für unsere Gesellschaft haben sich die elf Mitglieder der IAG bereitgefunden, die Gentechnologien auch in der Zukunft weiter kritisch zu beleuchten und Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen daraus abzuleiten. Nachdem in den 2005, 2009 und 2015 publizierten ersten drei Gentechnologieberichten der Arbeitsgruppe der aktuelle Stand in Forschung und Anwendung, die ökonomische Nutzung und ihre ethischen, juristischen und gesellschaftlichen Implikationen im Vordergrund gestanden hatten, zieht jetzt der vierte Gentechnologiebericht – wie die Herausgeber schreiben – Bilanz über die Arbeit des gesamten Zeitraums, reflektiert über das langjährige Monitoring der Gentechnologien und liefert gleichzeitig einen Blick in die Zukunft.

In der IAG Gentechnologiebericht analysieren renommierte Expertinnen und Experten aus den Bereichen der Medizin, der Natur-, Sozial- und Rechtswissenschaften, der Ethik, Philosophie und Rechtswissenschaft aus ihren jeweiligen Perspektiven die sechs gentechnologischen Kernthemen Stammzellforschung, Epigenetik, Gendiagnostik und Gentherapie sowie grüne Gentechnologie und synthetische Biologie. Dieser interdisziplinäre Ansatz ist, wie der Biochemiker Ferdinand Hucho bei der Vorstellung des Berichtes betonte, ergebnisoffen und unabhängig von Partikularinteressen und soll unvoreingenommen und objektiv den öffentlichen Diskurs um die Gentechnologien in Deutschland fördern. Zu jedem dieser Kernthemen oder Themenfelder hat die IAG in den vergangenen Jahren bereits kritische Bestandsaufnahmen publiziert. In dem jetzt vorliegenden Gesamtbericht wird eine Bilanz über eine Vielzahl gesellschaftlich relevanter Themen (sogenannte Problemfelder) unter wissenschaftlichen, sozialen, ökonomischen und ethischen Gesichtspunkten gezogen. Die meisten dieser Problemfelder haben Bedeutung für mehrere Kernthemen zugleich (siehe Abbildung). Aus vielen verschiedenen, zumeist öffentlich zugänglichen Datenbanken wurden Indikatoren entwickelt, die als statistische Kenngrößen eine quantitative Beschreibung mancher Problemfelder ermöglichen, die sich sonst nicht direkt messen und vergleichen lassen. Beispielsweise können die Realisierung der Forschungsziele und die Positionierung des Forschungsstandortes Deutschland durch die Anzahl der internationalen Fachartikel zu den Themenfeldern der IAG sowie die Fördermaßnahmen durch Bundesregierung, Deutsche Forschungsgemeinschaft und Europäische Union dargestellt werden.

Problemfelder zur Gentechnologie. Grau unterlegte Problemfelder sind für drei oder mehr im Gentechnologiebericht behandelte Themen relevant, weiße Felder für ein oder zwei Themen. © Marx-Stölting, L./Könninger, S. (2018): Problemfelder der Gentechnologien gestern und heute. In: Hucho, F. et al.: Vierter Gentechnologiebericht, Nomos, Baden-Baden.

Gesetzeshindernisse und Handlungsempfehlungen

Besonderes Gewicht erhält der Bericht durch ausgewogene und detailliert begründete Handlungsempfehlungen zu den mit den Gentechnologien verbundenen Problemen und Risiken. Die Empfehlungen beziehen sich auf die Forschungs- und Anwendungsbereiche der verschiedenen Themenfelder, die in Deutschland gezielt zu fördern sind, wo die Aufklärung der Öffentlichkeit über Stand und Möglichkeiten der Forschung verbessert werden muss und ein Monitoring durch Aufsichts- und Zulassungsbehörden notwendig ist. Nachdrücklich verweisen die Experten der IAG auf lückenhafte, inkonsistente oder sogar verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Bestimmungen im Embryonenschutzgesetz und im Stammzellgesetz, die einer Novellierung bedürfen. Insbesondere wegen dieser Handlungsempfehlungen steht zu hoffen, dass der Gentechnologiebericht der BBAW bei den mit der Thematik befassten Entscheidungsträgern in der Wissenschaft, der Forschungs- und Gesundheitspolitik Deutschlands zu Rate gezogen wird.

Bei der Vorstellung des Berichtes lag ein Schwerpunkt der Diskussion auf dem Genome-Editing und seinen möglichen Anwendungsbereichen in der Gentherapie, der Medikamentenentwicklung, der Pflanzenzüchtung, aber auch für Tiermodelle in der Forschung und für die Entwicklung von Biomaterialien und Biotreibstoffen. Bernd Müller-Röber, IAG-Mitglied und Präsident des Verbandes Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland, betonte, dass die Initiative des Bundesforschungsministeriums zur Weiterentwicklung bestehender Genome-Editing-Technologien und die Züchtung von Kulturpflanzen intensiv weiter vorangetrieben werden sollte. In einem offenen Brief an Bundesforschungsministerin Anja Karliczek und ihre Kollegin im Landwirtschaftsministerium Julia Klöckner fordern Müller-Röber und 130 weitere namhafte Wissenschaftler, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofes nicht das letzte Wort sein dürfe und zumindest die in der alten EU-Richtlinie 2001/18/EC festgelegte Definition von gentechnisch veränderten Organismen, auf die sich das Urteil bezieht, an den wissenschaftlichen Fortschritt angepasst werden müsse. 

Zum Genome-Editing von Stammzellen empfiehlt die IAG Gentechnologiebericht eine konsequente, langfristige Erforschung, „da hier neue Möglichkeiten zur patientenspezifischen Therapie und Medikamentenentwicklung für bislang nicht therapierbare Krankheiten zu erwarten sind. Gleichzeitig sollten Sicherheits- und Risikoaspekte möglicher Anwendungen des Genome-Editings gründlich erforscht werden, da nur so eine fachkompetente Beurteilung und Abwägung der Chancen und Risiken erfolgen kann. Keimbahninterventionen mittels Genome-Editing mit potenziellen Auswirkungen auf den sich entwickelnden Menschen sollten hingegen weiterhin unterbleiben.“ Bereits 2015 hatte sich die BBAW – in einer gemeinsamen Stellungnahme mit den anderen deutschen Akademien der Wissenschaften, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech und der Deutschen Forschungsgemeinschaft – für ein internationales Moratorium ausgesprochen: „im Hinblick auf sämtliche Formen der künstlichen Keimbahnintervention beim Menschen, bei der Veränderungen des Genoms an Nachkommen weitergegeben werden können…, um offene Fragen transparent und kritisch zu diskutieren, den Nutzen und potentielle Risiken der Methoden beurteilen zu können und Empfehlungen für zukünftige Regelungen zu erarbeiten.“

Die Büchse der Pandora

Chancen und Grenzen des genome editing (2015) © Leopoldina

Am 26. November 2018 wurde in der ganzen Welt die sensationelle Meldung verbreitet, dass in der südchinesischen Stadt Shenzhen zwei Kinder geboren seien, die im frühen Embryonalstadium mit der Crispr/Cas9-Genschere im Gen des Rezeptors CCR5 so verändert worden waren, dass die Kinder gegen HIV resistent sind. Eine unabhängige Bestätigung für die Behauptungen des chinesischen Mediziners He Jiankui von der Southern University of Science gibt es nicht – die Daten sind auch noch nicht publiziert – dennoch löste die Nachricht allein weltweit Bestürzung und heftige Kritik aus. Es steht zu fürchten, dass die Schutzmauer weiter bröckelt, die man gegen die missbräuchliche Genmanipulation des Menschen zu errichten versucht hat. Die für ihre Entwicklung der Crispr/Cas9-Technologie unter anderem mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnete französische Wissenschaftlerin Emmanuelle Charpentiers, die jetzt am Berliner Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie forscht, erklärte, dass sie besorgt sei, He habe „eine rote Linie überschritten, vor allem weil er die Bedenken der internationalen Science Community bezüglich der Sicherheit von Eingriffen in die Keimbahn ignoriert hat.“ Und der chinesische Neurowissenschaftler Feng Zhang, ein Miterfinder der Genom-Editierung mit Crispr, fordert zusammen mit 122 Kollegen, dass auch China rasch regulierende Gesetze erlässt und kontrolliert, denn hier wurde „die Büchse der Pandora geöffnet.“ Vielleicht besteht die Chance, sie noch rechtzeitig wieder zu schließen.

Publikationen:

Vierter Gentechnologiebericht. Bilanzierung einer Hochtechnologie. Herausgeber: Ferdinand Hucho, Julia Diekämper, Heiner Fangerau, Boris Fehse. Jürgen Hampel, Kristian Köchy, Sabine Könninger, Lilian Marx-Stölting, Bernd Müller-Röber, Jens Reich, Hannah Schickl, Jochen Taupitz, Jörn Walter, Martin Zenke, Martin Korte (Sprecher). Nomos Verlag, Baden-Baden 2018. Open Access abrufbar unter: www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845293790

Chancen und Grenzen des genome editing. Gemeinsame Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. (2015, 30 Seiten, ISBN: 978-3-8047-3493-7)

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