Entwicklung tumorhemmender Wirkstoffe
Das Schutzschild der Krebsgeschwüre im Visier
Krebszellen besitzen unterschiedliche Mechanismen, um der Vernichtung durch das Immunsystem zu entgehen. Solide Tumore beispielsweise sind häufig von einer Schutzschicht aus Laktat umgeben, die eine stark immunsuppressive Wirkung hat. Die WMT AG aus Heidelberg entwickelt kleine Wirkstoffmoleküle, die die Laktatproduktion verringern und die Zellen so wieder angreifbar für das Immunsystem machen.
Im Vergleich zu gesunden Körperzellen besitzen Krebszellen grundlegend veränderte Eigenschaften. Unabhängig von externen wachstumsfördernden Faktoren vermehren sie sich unbegrenzt und reagieren auch nicht auf wachstumshemmende Signale. Dabei sind sie in der Lage, in fremdes Gewebe einzuwachsen sowie Tochtergeschwülste (Metastasen) zu bilden. Des Weiteren können sie den programmierten Zelltod (Apoptose) umgehen, der normalerweise bei Schäden zum Selbstmord der Zellen führt, und fördern die Bildung neuer Blutgefäße (Angiogenese) in ihrer Umgebung, sodass sie optimal mit Nährstoffen versorgt werden.
Warburg-Effekt schützt Tumorzellen
Während der Wachstumsphase stellen viele Krebszellen ihren Energiestoffwechsel um. Glucose als Hauptenergielieferant wird in der Glykolyse zum Energieträger Adenosintriphosphat (ATP) und Pyruvat abgebaut. In Gegenwart von Sauerstoff entsteht aus letzterem im nachfolgenden Citratzyklus und der Atmungskette weiteres ATP sowie Kohlendioxid und Wasser. Bereits in den 1920er Jahren entdeckte der Biochemiker Otto Heinrich Warburg, dass Tumorzellen auch bei ausreichender Sauerstoffversorgung das Pyruvat zu Laktat vergären, dem Anion der Milchsäure. Der Vorgang findet sonst nur unter anaeroben (Sauerstoffmangel-) Bedingungen statt, beispielsweise in Muskeln bei starker Beanspruchung. „Auch wenn auf diesem Weg weniger ATP entsteht, generieren die Zellen dadurch viele Bausteine, die sie für ihr schnelles Wachstum benötigen“, erläutert Dr. Claus Kremoser, CEO der WMT AG. WMT steht für „Warburg Metabolism Therapeutics“ oder auch einfach nur für „We make cancer therapeutics“. Das Heidelberger Unternehmen entwickelt neue Therapien, die gezielt in den Krebsstoffwechsel eingreifen.
Aufgrund des Warburg-Effekts haben Tumorzellen einen hohen Glucoseverbrauch und produzieren große Mengen an Laktat, das gemeinsam mit Protonen (H+) über die Monocarboxylat-Transporter MCT-1 und MCT-4 aus der Zelle geschleust wird. Mit der Zeit führt dies bei den meisten Krebsarten zu einer Ansäuerung der Tumormikroumgebung, beispielsweise in den sauerstoffarmen (hypoxischen) Zonen von soliden Tumoren sowie bei Leukämien und Lymphomen häufig im Knochenmark. Zusammen mit der hohen Laktatkonzentration entsteht so ein immunsuppressiver Schutzmantel, der die Aktivität von natürlichen Killerzellen oder tumorspezifischen T-Lymphozyten hemmt. Immunsuppressive Immunzellen hingegen wie Myeloide Suppressorzellen, regulatorische T-Zellen oder tumorassoziierte Makrophagen werden angezogen. Neben anderen Mechanismen trägt Laktat deshalb wesentlich zur Immunevasion (Tarnung vor dem Immunsystem) von Tumoren bei. Des Weiteren kann der Warburg-Stoffwechsel und die damit verbundene hohe Laktatmenge die Wirksamkeit von Strahlen- und Chemotherapien verringern.
Laktatproduktion als Angriffspunkt
„Viele Krebstherapien funktionieren in soliden Tumoren nicht, da die vorhandene Immunantwort vom Tumor ausgebremst wird. Deshalb wollen wir die Stellschrauben auf der Tumorseite neu justieren“, beschreibt Kremoser das Ziel der erst 2020 gegründeten Firma. Der Biochemiker und seine Mitgründer besitzen aus ihrer Zeit bei der Phenex Pharmaceuticals AG langjährige Erfahrung in der Entdeckung und Entwicklung von kleinen Wirkstoffmolekülen. „Wir konzentrieren uns jetzt auf den Warburg-Metabolismus und wollen hier so eingreifen, dass immunreaktive Zellen den Tumor wiedererkennen und vernichten können.“
Erste Ansätze, die entweder direkt die Synthese von Laktat oder verknüpfte Signalwege inhibierten, zeigten schwere Nebenwirkungen, da diese Prozesse auch in gesunden Zellen eine Rolle spielen. Das Ausschalten der Transporter MCT-1 oder MCT-4 wiederum reduzierte die Laktatausschleusung nur zu 50 Prozent - eine therapeutisch zu schwache Wirksamkeit. Bei den umfassenden Untersuchungen stieß die WMT dann auf einen vom Institute of Cancer Research London veröffentlichten Wirkstoff, der eigentlich als Inhibitor des kleinen Kernproteins Pirin beschrieben ist, das in fast allen Zellen vorkommt. Genauere Analysen zeigten allerdings, dass die Substanz auch nach dem Entfernen von Pirin die Laktatproduktion bremst und dieser Effekt dementsprechend über ein anderes Zielmolekül vermittelt werden muss. Kremoser schildert: „Der Wirkstoff lässt sich gut dosieren und hat in Tiermodellen eine deutlich krebshemmende Wirkung gezeigt. Er dreht den Warburg-Metabolismus massiv herunter, ohne das Tier zu schädigen. Da er aber nicht uns gehört, konnten wir als Firma damit leider nicht viel anfangen.“
In den vergangenen zwei Jahren hat die WMT deshalb große Anstrengungen unternommen und konnte durch geschickte Auswahl zellulärer Assays mehrere Substanzen identifizieren, die ähnlich oder sogar besser wirken. Zur Gewinnung neuer Investoren musste allerdings ebenfalls das Zielprotein ermittelt und der Wirkmechanismus entschlüsselt werden. Dies gelang im Frühjahr 2022 durch eine detaillierte Analyse der RNA-Signatur. Das heißt, der nach Gabe des Wirkstoffes auftretenden Änderungen im mRNA-Profil in Kombination mit biochemischen Interaktionsstudien. Es stellte sich heraus, dass der zentrale Angriffspunkt das Sec61-Translokon ist, ein in der Membran des Endoplasmatischen Retikulums (ER) befindlicher Proteinkomplex. Er bildet einen drehtürähnlichen Durchgang, durch den neu entstehende Proteinketten ins ER gefädelt werden, wenn sie für den Export vorgesehen sind. Die gefundenen Wirkstoffe blockieren das Translokon aber nicht komplett, sondern verkanten in ihm. Dies führt zu einer deutlich verringerten Proteinexportrate und vor allem zu einem starken Austritt von Calcium-Ionen (Ca2+) aus dem ER ins Cytosol. Dadurch wird intrazellulär eine Ca2+-abhängige Signalkaskade eingeleitet, die einen „Emergency Shutdown“ der Zelle verursacht und mit einem Herunterfahren des Warburg-Metabolismus einhergeht.
Aber wäre es nicht sinnvoller, die Tumorzellen direkt zu vernichten? „Prinzipiell ja, wenn man allerdings halbwegs selektiv sein will, dann ist dieser Weg besser“, erklärt Kremoser. „Das Translokon ist ein zentrales und universelles Protein. Aber dadurch, dass Krebszellen einen viel höheren Umsatz und Proteinexport haben, werden sie durch unseren Wirkstoff besonders getroffen. Wenn ich Zellen in einem soliden Tumor töte, dann platzen sie auf und setzen sofort viel Laktat frei, wodurch sie das Immunsystem noch stärker hemmen. Ruhende Tumorzellen ohne Laktatschutzschicht hingegen können erkannt und vernichtet werden.“ Durch chemische Veränderungen lässt sich zudem die Wirkung der Substanzen so beeinflussen, dass vor allem der Export von immunsuppressiven Botenstoffen und Proteinen wie PD-L1 und CD47 verringert wird. „Mit einem einzigen niedermolekularen Wirkstoff, den man in Form einer Tablette verabreichen kann, erzielen wir also zwei wichtige, sich ergänzende Effekte: Einerseits wird das Tumorwachstum gestoppt und andererseits der Angriff des Immunsystems ermöglicht. Genau dies sehen wir im Tiermodell.“
Kandidat für Klinische Studien identifiziert
Der WMT ist es weiterhin gelungen, durch Nutzung spezieller physikochemischer Eigenschaften die Selektivität der Substanzen für Krebsgewebe zusätzlich um das 20-Fache zu erhöhen, wodurch eine gute Dosierung in vivo möglich ist. Aus mehr als 330 Varianten an Wirkmolekülen, die das Unternehmen in den letzten zwei Jahren synthetisiert hat, wurde durch Wirksamkeits- und Toxizitätsvergleich das beste Molekül herausgefiltert. Im Oktober 2022 war es soweit: Die WMT hat einen klinischen Entwicklungskandidaten benannt - B-306 -, mit dem nach Abschluss der Voruntersuchungen Klinische Studien durchgeführt werden können. Dabei wird sich der Einsatz auf die Behandlung eines Tumors mit hoher Proteinsekretionsrate konzentrieren, wie beispielsweise Pankreas- und Ovarialkarzinome oder Blutkrebsarten wie das Multiple Myelom und diverse B-Zell-Lymphome, deren Krebszellen aus dem Knochenmark stammen. Da der Wirkstoff nicht auf eine bestimmte Tumorart ausgelegt ist, sondern ein universelles Anti-Tumor-Prinzip nutzt, besteht bei erfolgreicher Zulassung für die Zukunft grundsätzlich die Hoffnung auf breitere Einsatzmöglichkeiten.