Stammzellentherapie zur Regeneration von Bandscheiben
Europa hat Rücken – Ulm einen Simulator
Rückenleiden sind meist Bandscheibenleiden. Vieles wurde bereits versucht und wird angeboten, um den Patienten zu helfen. Trotz aller Fortschritte gibt es jedoch noch kein sicheres Erfolgsrezept. Einen neuen regenerativen Ansatz verfolgt iPSpine, ein EU-Projekt, in das Ulmer Forscher ihre interdisziplinäre Ingenieurs- und Biomedizin-Expertise einbringen.
Weltweit führen Muskelskelett-Erkrankungen die Ursachenliste für chronische Erkrankungen an. Rückenschmerzen zählen dabei zu den häufigsten Beschwerden. Gesundheits-Surveys in Deutschland (GEDA 2009 und 2010) zeigten, dass rund ein Viertel der Frauen und etwa jeder sechste Mann innerhalb eines Jahres unter Rückenschmerzen litten, die drei Monate oder länger anhielten und fast täglich auftraten. Das ist nicht nur ein individuelles Gesundheitsproblem, sondern belastet durch Fehlzeiten und Frühverrentungen auch die Gesamtwirtschaft und die Sozialsysteme. Im Zentrum des Krankheitsgeschehens stehen die 23 Bandscheiben im menschlichen Körper. Degenerieren sie, sind schmerzhafte und behandlungsbedürftige Bandscheibenvorfälle eine mögliche Folge. Dabei tritt Substanz aus dem gallertigen Kern durch den Faserknorpelring der Bandscheibe nach außen und kann an die Nervenwurzeln an der Wirbelsäule drücken. Die Therapieoptionen für degenerierte Bandscheiben reichen von Schmerzmitteln über Physiotherapie bis hin zu diversen operativen Eingriffen.
In einem internationalen, von der EU mit 15 Millionen Euro geförderten Großprojekt namens iPSpine entwickeln 20 Projektpartner seit Januar 2019 einen neuen Therapieansatz. Er fußt auf der Kombination von iPS (induzierten pluripotenten Stammzellen) mit Biomaterialien. Beides zusammen soll der degenerierten Bandscheibe quasi neues Leben einhauchen. Das Biomaterial soll die Bandscheibe zunächst mechanisch stabilisieren und eine regenerationsfreundliche Umgebung schaffen. Patienteneigene Stammzellen, zum Beispiel aus dem Blut, sollen im Labor reprogrammiert werden zu iPS. Sie lassen sich grundsätzlich wieder zu Zellen fast aller Gewebe differenzieren. In diesem Fall sollen daraus Bandscheiben-Vorläuferzellen entwickelt und dann zusammen mit dem Biomaterial in die Bandscheibe injiziert werden. Läuft alles gut, etablieren und vermehren sich die Zellen hier und bilden selbst alle extrazellulären Substanzen, die eine gesunde Bandscheibe braucht. So weit die Theorie. Bis zur umsetzungsfähigen Praxis müssen die Projektpartner jedoch noch ein gutes Wegstück zurücklegen und zahlreiche praktische Hürden nehmen.
Ein ganz zentrales Werkzeug dafür entsteht gemeinschaftlich bei zwei Projektpartnern in Ulm, die dafür rund eine Million Euro aus dem Fördertopf der EU erhalten. Im Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik der Universität Ulm befasst sich die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Hans-Joachim Wilke bereits seit 30 Jahren mit der Biomechanik der Wirbelsäule. Hier wurden zum Beispiel spezielle Testmethoden für neue Operationsverfahren und innovative Implantate für die Wirbelsäule entwickelt, die heute weltweit eingesetzt werden. Seit 2007 bietet das Spin-off SpineServ erfolgreich zertifizierte Dienstleistungen für die Industrie an und entwickelt sie – auch in diesem Projekt – in Kooperation mit den Forschern der Universität weiter. „Wir können physiologische Belastungen so realistisch simulieren, dass zuverlässig vorhergesagt werden kann, wie sich das Implantat im menschlichen Körper verhält“, sagt Wilke. Dreh-, Beuge- und Hebebewegungen – alles kein Problem für die Stahl- und Aluminiumkonstruktion des elektrisch betriebenen Simulators. Stoß- und Scherbelastungen lassen sich damit an echten Präparaten und an Modellen testen. Auch die Wirksamkeit von Maßnahmen wie Versteifungen kann mit dem Ulmer Simulator untersucht werden.
Im Rahmen des EU-Projekts nutzen Wilke und sein Team den Belastungssimulator auch, um die von anderen Projektpartnern entwickelten Biomaterialien in echten Bandscheibenpräparaten zu testen. „Wir verwenden dafür Präparate von Körperspendern und von Tieren. Die Bandscheiben von Kälberschwänzen, die wir direkt vom Schlachthof beziehen, können wir inzwischen bis zu drei Wochen am Leben erhalten“, erklärt Wilke. Das gibt den Forschern mit ihren Partnern genug Zeit, um für iPSpine Bandscheibenerkrankungen künstlich zu induzieren und die neuen therapeutischen Ansätze auszuprobieren. „Wir können mit Nadelstichen oder durch mechanische Überlastung Entzündungen hervorrufen, deren Ausmaß wir mithilfe von inflammatorischen Markern wie Interleukin bestimmen. Oder wir verwenden das Enzym Chymopapain, um die Peptidbindungen in den Proteoglycanen des Gallertkerns zu spalten. So können wir eine degenerierte Bandscheibe simulieren“, sagt Wilke. Der Vorteil der Chymopapain-Methode: Es entsteht ein Loch in der Bandscheibe, in welches das zu testende Biomaterial einfach eingespritzt werden kann. Allerdings entspricht das Loch nicht ganz den echten Gegebenheiten einer degenerierten Bandscheibe, weil dort eher Fissuren als Kavitäten auftreten. Deshalb experimentieren die Forscher noch mit anderen Enzymen. Diese Arbeiten werden parallel auch in Zellkultur beim Schweizer Kooperationspartner AO Research Institute Davos (ARI) durchgeführt. „Wir haben den Ehrgeiz, ein möglichst authentisches Fissurmodell zu entwickeln“, so Wilke. Mit dem Wissen um die vielen, höchst komplexen morphologischen Veränderungen bei einer echten degenerierten Bandscheibe ist ihm und seinen Kollegen klar, dass es sich immer nur um ein Modell und somit um einen Kompromiss handeln kann – dann aber eben um den bestmöglichen, wie er sagt.
Die Projektpartner des ARI kultivieren auch die iPS-Zellen und untersuchen die Interaktion zwischen den Zellen und dem Biomaterial. Welches genau sich hier am besten eignet, wird sich erst noch zeigen. In Arbeit sind unter anderem Hydrogele und Albumingele – von unterschiedlichen Forschungseinrichtungen und Firmen in Irland und Deutschland, verrät Wilke. Eingespannt in den Prüfstand der Ulmer Forschungspartner, können die Bandscheibenpräparate mit und ohne Biomaterialien bzw. Zellen getestet werden. Die Bandscheibe wird dafür entweder mitsamt je einem Wirbelkörper oben und unten eingespannt, oder sie wird in Kunststoff eingegossen und dadurch fixiert. Für die biomechanischen Tests hat das Team unterschiedliche Belastungsprotokolle parat, mit denen von kurzer bis zu langer hochkomplexer Beanspruchung alle möglichen Szenarien durchgespielt werden können.
Um alle Effekte, sowohl die degenerativen als auch später die regenerativen, mit höchster Genauigkeit messen zu können, entwickelt SpineServ für das Projekt eine spezielle Software. Für diese Aufgabe hat das Ulmer Unternehmen laut Wilke eigens Experten angestellt, die auch Bausteine mit Künstlicher Intelligenz einbinden. Über iterative Prozessteuerung liefern sie eine noch genauere Datenbasis. „Die Software-Entwicklungen sollen zu einem neuen Standbein des Unternehmens werden und Perspektiven für weitere Dienstleistungen bieten“, hofft Wilke, der auch als wissenschaftlicher Beirat mit dem Unternehmen verbunden ist.
An iPSpine arbeiten unter Koordination von Dr. Marianna Tryfonidou, Professorin für Regenerative Orthopädie an der veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Utrecht, viele international verteilte Gruppen. Damit sie alle einen möglichst unkomplizierten Zugang zu biomechanischen Tests haben, entwickeln die Ulmer Forscher eine mobile Variante ihres Belastungssimulators. Er ist nur ca. ein Meter hoch, breit und tief und somit gut zu transportieren. Entsprechend geschulte Ingenieure können damit zu den Forschungspartnern reisen. Der große Vorteil: Die teilweise sehr empfindlichen oder wenig haltbaren Präparate müssen nicht selbst auf Reisen gehen. „Den ersten Wirbelsäulensimulator habe ich schon in meiner Doktorarbeit entwickelt. Seit 25 Jahren wird er immer weiter optimiert. Im Grunde ist er nie fertig, sondern wird immer weiter modifiziert, und er bekommt jetzt eine mobile Variante“, sagt Wilke. Im Rahmen des EU-Projekts wird der Simulator auch für tierische Präparate angepasst. Die neue Therapie ist nämlich nicht nur für die Human-, sondern auch für die Veterinärmedizin höchst interessant. So gibt es einige Hunderassen wie Dackel, die durch ihren lang gezüchteten Rücken besonders anfällig sind für Rückenleiden und Bandscheibenvorfälle. Sie werden, so der Plan, auch die ersten Patienten sein, an denen die neue Therapie ausprobiert werden soll.