App zur Tuberkulose-Diagnostik
„Find-TB“ soll Zugang zu Tuberkulose-Diagnostik verbessern
Die meisten der weltweit an Tuberkulose erkrankten Kinder erhalten keine Diagnose und somit keine Therapie, da ihre Symptome nicht richtig zugeordnet werden. Forschende des Universitätsklinikums Heidelberg wollen nun eine App entwickeln, die medizinische Informationen, Risikofaktoren sowie lokale Surveillance-Daten auswertet und ein individuelles Infektionsrisiko errechnet, damit Betroffene möglichst früh auf TB untersucht werden.
„Tuberkulose ist die Infektionskrankheit, die jährlich weltweit die meisten Todesopfer fordert“, berichtet Prof. Dr. Claudia Denkinger vom Universitätsklinikum Heidelberg UKHD eindringlich. „An TB sterben doppelt so viele Menschen wie an AIDS, das an zweiter Stelle steht. Leider ist diese Tatsache im öffentlichen Bewusstsein zu wenig präsent.“ Nur in den Jahren 2020 und 21 übertraf COVID-19 diese Zahlen.
Tuberkulose wird vom Erreger Mycobacterium tuberculosis verursacht und manifestiert sich normalerweise in der Lunge. Die Übertragung erfolgt durch infektiöse Tröpfchen und Aerosole, die beim Husten, Niesen oder Sprechen freigesetzt werden. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO ist etwa ein Viertel der Weltbevölkerung latent infiziert. 90 bis 95 Prozent der Personen mit intaktem Immunsystem sind in der Lage, die Bakterien zu eliminieren oder in kleinen Knötchen - sogenannten Tuberkeln - zu verkapseln. Bei jährlich mehr als 10 Mio. Menschen bricht die Krankheit jedoch aus, und etwa 1,3 Mio. Betroffene versterben - obwohl TB gut behandelbar ist.1) Die Ärztliche Direktorin der Abteilung Infektions- und Tropenmedizin am Zentrum für Infektiologie des UKHD erläutert: „Die diagnostische Lücke ist bei TB sehr groß. Mehr als 40 Prozent der Erkrankten erhalten keine Diagnose und damit keinen Zugang zu einer Therapie. Bei Kindern ist der Anteil mit über 60 Prozent noch größer, zudem haben diese eine deutlich höhere Mortalitätsrate.“
Prognose-App soll diagnostische Lücke verkleinern
Ohne Behandlung führt TB in der Hälfte der Fälle zum Tod, unter medikamentöser Therapie überleben hingegen 85 Prozent der Betroffenen. Die Krankheit tritt insbesondere in Südostasien (v. a. Indien, Indonesien, China) und Afrika (v. a. Nigeria, Demokratische Republik Kongo, Südafrika) mit jährlich mehreren 100 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohnern auf. In Europa beträgt die durchschnittliche Inzidenz nur etwa 10 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohnern; in Deutschland ist sie sogar noch deutlich geringer.2)
Da die Symptome zu Beginn des Ausbruchs sehr unspezifisch sind, ist die Diagnose schwierig. Es können Müdigkeit und Schwäche, Appetitlosigkeit, leichtes Fieber oder vermehrtes Schwitzen auftreten. Bei Kindern kommt es zu Gewichtsverlust, Wachstumsstörungen sowie Entwicklungsdefiziten, aber der im späteren Stadium bei Erwachsenen typische Husten fehlt häufig.
„Wir müssen erreichen, dass mehr Kinder, die ein hohes Risiko haben, erkrankt zu sein, der Diagnose zugeführt werden“, betont Denkinger, die schon lange auf dem Gebiet arbeitet und seit 2021 gewähltes Mitglied der Beratungsgruppe Tuberkulosediagnostik und Laborstärkung der WHO ist. „Zu diesem Zweck wollen wir eine Prognose-App entwickeln, die das individuelle Tuberkulose-Risiko errechnet.“ Ihr Projekt „Find-TB“ wird seit Anfang 2024 vom Europäischen Forschungsrat mit rund zwei Mio. Euro im Rahmen eines Consolidator Grant für fünf Jahre gefördert.
KI kombiniert Gesundheits- und Regionaldaten
Die Infektiologin erklärt: „Unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz wollen wir nicht nur die Patientendaten zu den unspezifischen Symptomen auswerten, sondern auch Voruntersuchungen und weitere Erkrankungen sowie die Wohnsituation oder Kontakte zu TB-Infizierten einbeziehen. Diese Angaben sollen dann zusätzlich mit länderspezifischen Surveillance-Daten abgeglichen werden, die beispielsweise aufzeigen, wo es Hotspots gibt, oder wie die Lebensbedingungen am jeweiligen Wohnort sind.“
Die große Herausforderung bei der Fülle an Informationen wird die Gewichtung der einzelnen Parameter zueinander sein, damit letztendlich ein aussagekräftiger Wert berechnet werden kann. Denkingers Team verfolgt deshalb zwei unterschiedliche Strategien: Einmal will man - zumindest teilweise – die Priorisierung der medizinischen Angaben vorgeben, in einem anderen Ansatz wird dies der KI überlassen. Über die WHO erhalten die Forschenden Zugang zu nationalen Studien und können bereits auf 400.000 Datensätze von Patientinnen und Patienten zugreifen.
Letztendlich soll eine App für das Smartphone oder den Computer entwickelt werden, in die das Gesundheitspersonal einfach, schnell und intuitiv alle relevanten Kenndaten der Kinder eingeben kann. Das Programm errechnet dann deren individuelles TB-Risiko und gibt eine Empfehlung für die weitere medizinische Vorgehensweise. Auf diese Art und Weise könnte vor allem in ressourcenschwachen Regionen eine Vorauswahl erfolgen, sodass die gezielte Nutzung der begrenzten diagnostischen Mittel sichergestellt wird. Die Projektleiterin ist sehr zuversichtlich, innerhalb des Förderzeitraums ein Basismodell entwickeln und in einer Pilotstudie den Proof of Principle erbringen zu können.
Bottleneck Diagnose
„Bei Tuberkulose ist nicht die Behandlung das Problem, sondern die vorherige Diagnose bzw. das Monitoring des Therapieansprechens“, führt die Medizinerin weiter aus. Aufgrund der unspezifischen Symptomatik ist grundsätzlich der Nachweis des Erregers erforderlich. Aber im Gegensatz zu HIV oder COVID gibt es bisher noch keine einfachen Methoden wie beispielsweise Lateral-Flow-Schnelltests. Und da das Anzüchten einer Laborkultur sehr aufwendig ist und mehrere Wochen dauert, wird das Bakterium auch heute noch meistens wie zu Zeiten Robert Kochs unter dem Mikroskop identifiziert. Hierfür wird Sekret aus den tiefen Atemwegen, sogenanntes Sputum, benötigt. Kinder unter fünf Jahren sind allerdings kaum in der Lage, dieses abzugeben, weshalb ihnen in einer nicht ganz einfachen Prozedur mit Hilfe eines Röhrchens Proben aus der hinteren Nase oder dem Magen entnommen werden müssen. Dieses Verfahren erfordert Zeit und Expertise, die in den betroffenen Regionen nicht vorhanden sind. Ein klarer Hinweis auf eine Infektion durch die App könnte die Aktivitäten kanalisieren und Erkrankten zu einer schnelleren Diagnose verhelfen. Die Behandlung einer aktiven Tuberkulose erfolgt dann über insgesamt sechs Monate mit einer Kombination aus vier verschiedenen Antibiotika.
Tuberkulose auch in Europa wieder problematischer
Bereits im Jahr 2014 hat die WHO die End TB Strategy3) verabschiedet, mit der bis 2030 eine Reduktion der TB-Inzidenzrate um 80 Prozent und der Todesfälle um 90 Prozent erreicht werden soll. Weltweit arbeiten Forschende mit Hochdruck an unterschiedlichen Ansatzpunkten, um die Ziele zu erreichen. Zum einen liegt der Fokus auf der Entwicklung neuer Impfstoffe, denn der vorhandene BCG-Impfstoff schützt nur unzureichend. Des Weiteren werden verschiedene Strategien verfolgt, um die TB-Diagnostik präziser, schneller, einfacher und kostengünstiger zu machen. Dies geschieht beispielsweise im Rahmen des R2D2 TB-Netzwerks (Rapid Research in Diagnostics Development for TB Network)4), das unter Leitung von Denkinger Expertinnen und Experten unterschiedlichster Fachrichtungen aus zehn verschiedenen Ländern zusammenbringt.
Leider wird TB auch in Europa wieder präsenter: „In unserer Ambulanz sind die Fälle um ein Drittel gestiegen“, berichtet die Medizinerin. „Außerdem haben sich die Resistenzen mehr als verdoppelt.“ Diese beunruhigende Entwicklung hat ihren Ursprung vor allem in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, da dort nach dem Zerfall des Staates die Therapien häufig nicht bis zum Ende durchgeführt wurden. „In der Ukraine beträgt die Resistenzrate bereits fast 30 Prozent bei Erstdiagnose, aber auch in anderen osteuropäischen Ländern ist sie deutlich höher als in Westeuropa“, so Denkinger. Seit Anfang 2024 wird die exzellente Wissenschaftlerin in Form einer Heisenberg-Professur von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, damit sie die wichtigen Arbeiten auf dem Gebiet der Tuberkulose-Diagnostik auch zukünftig fortführen kann. Parallel will das UKHD den Bereich Infektiologie am Zentrum für Innere Medizin erweitern, sodass ihrem Team dann auch Klinikbetten zur Verfügung stehen, um Betroffene mit schwer therapierbaren oder neu aufgetretenen Infektionen zu behandeln.