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Start-up Cerebri GmbH

Flächendeckende EEG-Versorgung dank Telemedizin

Immer weniger Erkrankte erhalten zeitnah Zugang zu einem Elektroenzephalogramm, da sowohl die Messung der Gehirnaktivität als auch die Auswertung der Diagramme spezielle Expertise erfordern. Die neu gegründete Cerebri GmbH aus Tübingen will dies ändern und bietet zukünftig neben einfach zu handhabenden EEG-Messkappen auch schnelle, standortunabhängige und erstklassige Befundung durch Expertinnen und Experten an.

Innerhalb einer Nervenzelle werden Signale in Form von elektrischen Impulsen weitergegeben. Vor 100 Jahren, am 06. Juli 1924, gelang es dem Neurologen und Psychiater Dr. Hans Berger in Jena erstmals, diese elektrischen Ströme im menschlichen Gehirn abzuleiten. Er bezeichnete das entstandene Wellenmuster damals als „Elektrenke­phalogramm“. Heutzutage ist es unter dem Begriff Elektroenzephalogramm bekannt, kurz EEG. Mit Hilfe einer Vielzahl an Elektroden auf der Kopfhaut werden hierbei die Potenzialschwankungen in der Hirnrinde über einen längeren Zeitraum kontinuierlich erfasst und dargestellt. Ein EEG zeigt immer mehrere Wellen, die jeweils unterschiedlichen Frequenzbereichen entstammen und sich bestimmten Hirnarealen und Aktivitäten zuordnen lassen. Da jeder Mensch ein individuelles EEG-Bild besitzt, ist die Bandbreite normaler Diagramme sehr groß und die Auswertung erfordert viel Erfahrung.

Universeller Bedarf an EEGs

Auf zwei schwarz-weiß Porträtfotos sind zwei Männer mit kurzen Haaren, Brille und Bart zu sehen, die helle Hemden tragen.
Die Gründer der Cerebri GmbH, die Neurologen Dr. Johannes Lang (links) und PD Dr. Justus Marquetand (rechts). © Cerebri GmbH

Haupteinsatzgebiet des Verfahrens ist die Epilepsiediagnostik sowie die Beurteilung des Bewusstseins­zustandes in der Intensiv- und Notfallmedizin bis hin zum Feststellen des Hirntodes. „Ein EEG ist diagnostisch wegweisend für alle Störungen im Gehirn. Es ist ein universelles Tool, um die Gehirnaktivität zu verfolgen“, erläutert PD Dr. Justus Marquetand, der zuletzt als Oberarzt in der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen tätig war. So wird das Verfahren auch für die Narkoseüberwachung bei Operationen, die Einschätzung von Demenzerkrankungen oder das Überprüfen von Arzneimittel­wirkungen genutzt. Sein Kollege Dr. Johannes Lang vom Epilepsiezentrum Erlangen ergänzt: „Das EEG ist quasi das EKG des Kopfes. Es dient als funktioneller Gegenpart zur Computertomografie, die die strukturelle Integrität sichtbar macht.“

Im Gegensatz zu einem EKG, das innerhalb weniger Minuten und zumeist beim Hausarzt geschrieben werden kann, erfordert ein EEG allerdings deutlich mehr Aufwand. Allein für das Anbringen der Elektroden benötigen auch erfahrene Personen fast zehn Minuten, bei ungeschultem Personal dauert dies deutlich länger. Gemessen wird in der Regel eine halbe Stunde lang; der Zeitbedarf ist also enorm. Außerhalb der Routineanwendung kommt es überdies häufig zu einer fehlerhaften Positionierung der Elektroden und infolgedessen zu Störungen im Diagramm. Und selbst bei optimalen Messergebnissen sind für die Beurteilung geübte Neurologinnen und Neurologen nötig.

In Deutschland werden jedes Jahr ungefähr sechs Mio. Untersuchungen durchgeführt, doch der Bedarf ist wesentlich höher. „Es gibt immer mehr Patienten, aber immer weniger qualifizierte Menschen für die Durchführung und Auswertung eines EEGs“, schildert Marquetand die aktuelle Situation. „Dies hat große Auswirkungen auf medizinische Entscheidungen, also auf die richtige Diagnose und Therapie. Im Grunde wird ein EEG immer und überall benötigt. Derzeit besitzt aber nur etwas mehr als die Hälfte aller Krankenhäuser in Deutschland die technischen Möglichkeiten.“ Zudem überwiegt heutzutage im Bereich der Neurologie die Schlaganfallversorgung, sodass immer weniger Fachärztinnen und -ärzte während ihrer Ausbildung eine umfassende Expertise erlangen. Aktuell können deshalb nur 2,7 Prozent aller Kliniken rund um die Uhr eine EEG-Diagnostik anbieten. So entstehen häufig lange und teils gesundheitsgefährdende Wartezeiten bzw. hohe Kosten, wenn Erkrankte für die Messung in eine andere Klinik transportiert werden müssen.

EEG für jedermann, überall

Die beiden engagierten Epileptologen wurden in ihrem klinischen Alltag ständig mit der Problematik konfrontiert und setzten sich deshalb ein ambitioniertes Ziel: „Wir wollen die Versorgungsgerechtigkeit in diesem Bereich deutlich verbessern. Auch Personen, die in ländlichen Gebieten leben, sollen problemlos jederzeit Zugang zu dieser fundamentalen Untersuchungsmethode haben“, erklärt Lang. Nach gründlicher Bedarfsanalyse gründete er im Januar 2024 zusammen mit Marquetand die Cerebri GmbH. Das in Tübingen ansässige Unternehmen stellt zum einen in Partnerschaft mit deutschen Medizintechnikherstellern eine neuartige EEG-Messkappe zur Verfügung, die einfach und schnell auch von unerfahrenem Personal angelegt werden kann und qualitativ hochwertige Messergebnisse liefert.1) „Das hilft aber nichts, wenn niemand in der Lage ist, das EEG auszuwerten“, führt Marquetand aus. „Unsere Kernkompetenz liegt in der Befundung; die wollen wir 24/7 in Form einer telemedizinischen Dienstleistung anbieten.“

Derzeit kooperieren die beiden Experten, die bereits tausende EEGs begutachtet haben und auch als Ausbilder tätig sind, nur mit einigen Modellkliniken. Aber das Interesse sowohl von großen Kliniken als auch von kleinen Krankenhäusern ist bereits sehr groß. Doch bis zum flächen­deckenden Einsatz des Angebots müssen noch diverse juristische Fragestellungen geklärt werden. Zudem bearbeiten die Neurologen bisher alle Anfragen selbst, obwohl sie weiterhin in Klinik bzw. Wissenschaft aktiv sind. Deshalb sollen sie zukünftig von ebenso gut ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen unterstützt werden. Die Tätigkeit wird im Home-Office und in Teilzeit möglich sein und kann so auch Fachkräften in der Familienphase eine Perspektive bieten.

Entwicklung einer assistierenden KI

Schematische Darstellung des Ablaufs der Befundung von EEG-Aufzeichnungen durch Cerebri. Die einzelnen Stationen sind zeichnerisch dargestellt.
EEG-Befundservice der Cerebri GmbH. EEG-Aufzeichnungen werden in die sichere Cerebri-Cloud geladen und dort von Neurologinnen und Neurologen und zertifizierten EEG-Expertinnen und -Experten telemedizinisch befundet. Ein elektronischer Befundbericht wird an den Anfordernden zurück übermittelt. Bei Bedarf sind kurze Antwortzeiten je nach Dringlichkeit (z. B. Notfall-EEG) und ein Arzt-zu-Arzt-Gespräch zum weiteren Prozedere möglich. Die Cerebri GmbH arbeitet daran, in Zukunft eine assistierende KI anbieten zu können, die Ärztinnen und Ärzte bei der Auswertung von EEGs unterstützen kann. © Cerebri GmbH

Cerebri will sich allerdings nicht auf die reine Dienstleistung beschränken, sondern von Beginn an zusätzlich eine unterstützende Künstliche Intelligenz (KI) entwickeln. „Momentan gibt es noch keine geeigneten Datensätze für so eine komplexe Diagnostik“, berichtet Lang. „Eine KI benötigt zum Lernen gut ausgewertete und kategorisierte EEGs, die alle denselben Standard erfüllen. Dies können wir bei Cerebri gewährleisten.“ In einem iterativen Prozess soll die KI genutzt und ständig weiterentwickelt werden. Marquetand stellt klar: „Am Ende trifft aber immer ein Mensch die Entscheidung und trägt die Verantwortung. EEG-Befundung beruht vorwiegend auf Mustererkennung, dabei kann die KI assistieren.“

Die Gründer von Cerebri haben sich bewusst gegen private Investoren entschieden, da nicht die Wirtschaftlichkeit, sondern der medizinische Nutzen im Vordergrund stehen soll. Forschung und Entwicklung wurden und werden durch verschiedene Förderprogramme unterstützt, beispielsweise von der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). Beim Science2Start Ideenwettbewerb 2023 der BioRegion STERN konnte das innovative EEG-Befundungskonzept bereits überzeugen und belegte den 2. Platz.2)

Aufgrund ihrer guten Vernetzung, beispielsweise im Rahmen des Innovationscampus Cyber Valley Stuttgart-Tübingen3), Europas größter Forschungskooperation auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, können sich die Mediziner sowohl in wissenschaftlicher als auch wirtschaftlicher Hinsicht jederzeit mit Gleichgesinnten austauschen. Des Weiteren erhalten sie Unterstützung vom Innovation Board der BIOPRO Baden-Württemberg4), dessen Expertinnen und Experten quasi als Sparringspartner dienen.

Telemedizin wird immer wichtiger werden

Das simple und zielgerichtete Konzept des Start-ups verspricht großen Nutzen für das deutsche Gesundheitssystem. Mit Hilfe der angebotenen Messkappe könnte ein EEG zukünftig auch in kleinen Krankenhäusern oder sogar Arztpraxen von weniger erfahrenem Personal aufgezeichnet werden, eine professionelle Befundung erhielten die behandelnden Medizinerinnen und Mediziner dann von Cerebri. Insgesamt wäre die EEG-Diagnostik nicht nur einfacher und kosten­günstiger, sondern vor allem auch schneller und besser. Die beiden Mediziner sind sich einig: „An telemedizinischen Lösungen führt kein Weg vorbei, wenn sich die Medizin auf breiter Front nach vorne bewegen will und die Versorgungsqualität flächendeckend steigen soll.“

Literatur:

1) Günther, M. et al. (2023) Sponge EEG is equivalent regarding signal quality, but faster than routine EEG. Clin Neurophysiol Pract. 8:58-64. https://doi.org/10.1016/j.cnp.2023.03.002

2) Pressemitteilung BioRegio STERN (2023): Aussichtsreiche Ideen für Umweltschutz und Medizintechnik. https://www.bioregio-stern.de/de/presse/aussichtsreiche-ideen-fuer-umweltschutz-und-medizintechnik

3) Cyber Valley Stuttgart-Tübingen. https://cyber-valley.de/de

4) Innovation Board BIOPRO Baden-Württemberg. https://startup-innovation.bio-pro.de/innovation-board/board

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/flaechendeckende-eeg-versorgung-dank-telemedizin