Aufbau der Genomdatenbank genomDE
Ganzgenomsequenzierungen zur Diagnostik Seltener Krankheiten
Seltene Erkrankungen sind in ihrer Gesamtheit keineswegs selten; sie werden aber selten richtig diagnostiziert und selten richtig behandelt. In den meisten Fällen gibt es noch keine wirksame Medikation. Um die oft lange, qualvolle Suche nach der richtigen Diagnose und Therapie zu beschleunigen, sind in vielen Städten mit fachkundigen Experten besetzte Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) eingerichtet worden. Mit Ganzgenomsequenzierungen als Bestandteil der allgemeinen Krankenversorgung sollen die genetisch bedingten Erkrankungen identifiziert werden. Eine zentrale Datenbank, genomDE, soll aufgebaut werden, in der die genetischen und klinischen Daten verknüpft und die Diagnose, Prävention und Therapie der vor allem bei Kindern auftretenden Seltenen Erkrankungen verbessert werden.
Vier bis fünf Millionen Menschen – vor allem Kinder – leiden in Deutschland an einer Seltenen Erkrankung (SE), die nach der Definition in der Europäischen Union mit einer Häufigkeit von 5 oder weniger pro 10.000 Einwohner auftritt. Obwohl jede SE für sich genommen selten ist, handelt es sich bei allen zusammen keineswegs um ein seltenes Phänomen. In der medizinischen Literatur sind bis 2020 annähernd 9.000 verschiedene SE beschrieben worden, und jedes Jahr werden es mehr. Doch haben gerade einmal 160 Orphan Drugs als gezielte Medikamente eine Zulassung gegen nur 130 der insgesamt vielen tausend Krankheiten. Gegen die allermeisten SE gibt es keine wirksame Medikation.
Jahrelange Odyssee von Arzt zu Arzt
Problematisch sind aber nicht nur die mangelnden Therapiemöglichkeiten, sondern auch die oftmals falsche und fast immer viel zu späte Diagnose, erklärte Eva Luise Köhler, die Schirmherrin des Patientennetzwerks ACHSE e.V. (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen). Da jede dieser Krankheiten so selten ist, sind die meisten Ärzte mit ihrer Symptomatik nicht vertraut. Durchschnittlich dauert es fünf Jahre oder länger, bis eine SE richtig erkannt wird; in dieser Zeit werden bis zu acht verschiedene Ärzte aufgesucht. Fast die Hälfte der meist noch kindlichen Patienten erhält mindestens einmal eine Fehldiagnose.
Um den Patienten und ihren Angehörigen eine frustrierende Odyssee von Arzt zu Arzt mit oft qualvollen, erfolglosen Behandlungsversuchen zu ersparen, sind in vielen Großstädten Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) eingerichtet worden – beispielsweise an den fünf baden-württembergischen Universitätsklinika (Freiburg, Heidelberg, Mannheim, Tübingen und Ulm), die sich miteinander in einem von der Landesregierung geförderten Kompetenzzentrum Seltene Erkrankungen Baden-Württemberg vernetzt haben. Die dort vereinigten klinischen Erfahrungen - in Verbindung mit einem umfassenden und fachkundig recherchierbaren Informationsangebot über SE - können nicht nur die Erstellung der richtigen Diagnose, sondern auch die Expertenvermittlung für eine spezielle Therapie der jeweiligen Erkrankung beschleunigen.
Die Genomsequenzierungsplattform „genomDE“
Etwa 80 Prozent aller SE werden durch Mutationen in einem einzigen Gen verursacht; sie sind monogenetisch, im Gegensatz zu den heterogenen Volkskrankheiten wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei denen oft hunderte genetische und nicht-genetische Faktoren eine Rolle spielen. Für die Identifizierung und Charakterisierung einer SE ist die Genomsequenzierung oftmals der einzige Weg. Er ist auch notwendig, denn selbst wenn es kein Heilmittel gibt, ist das Auffinden des genetischen Defekts für die Patienten von größter Bedeutung, um die jahrelange verzweifelte Suche nach der richtigen Diagnose zu beenden.
Genomsequenzierungen sollen nach den Plänen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) zusammen mit umfassender Aufklärung und Beratung zukünftig einen wesentlichen Beitrag zur personalisierten Versorgung der Patienten leisten. Es soll eine vom BMG geförderte zentrale deutschlandweite Datenbank für Ganzgenomsequenzierungen (Whole Genome Sequencing WGS) namens „genomDE“ aufgebaut werden, die mit klinischen und phänotypischen Daten verknüpft wird und die Diagnose, Prävention und am Ende auch die Therapie genetisch bedingter Krankheiten verbessert. Damit soll die medizinische Genomsequenzierung in die allgemeine Krankenversorgung eingeführt werden. Alle Betroffenen und ihre Familienangehörigen würden davon profitieren. Mit der WGS-gestützten Diagnostik kann man sogar die Ursachen extrem seltener Krankheitsbilder finden, von denen es nur sehr wenige identische Fälle gibt. Die Datenbank dient aber auch der Wissenschaft, zum Beispiel um die Zusammenhänge von Genmutationen und Krankheitsbildern zu erforschen. Außerdem wird sie für die Krebsdiagnostik von Nutzen sein; dabei geht es vor allem um die Identifizierung von den - relativ seltenen - genetisch bedingten Krebsuntergruppen, gegen die teilweise in der Personalisierten Medizin schon spezifische hochwirksame Antikörper und andere Therapeutika existieren.
Das Behandlungs- und Forschungszentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) am Universitätsklinikum Tübingen hat – zusammen mit der TMF (Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung) und dem IGES-Institut (Infrastruktur und Gesundheit) in Berlin – eine Recherche erarbeitet, wie „genomDE“ unter Beachtung rechtlicher und ethischer Standards gestaltet und betrieben werden sollte. Ende 2019 hat Dr. Holm Graeßner, Erster Vorstand des ZSE Tübingen und Leiter der Stabsstelle Wissenschaftsmanagement des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen, über diese Recherche berichtet. Graeßner baut auch im Rahmen des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg eine Klinische Beratungsstelle Seltene Erkrankungen auf, die vom Sozialministerium Baden-Württemberg gefördert wird. Er kooperiert dabei mit dem Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik und dessen Ärztlichem Direktor, Prof. Dr. Olaf Rieß. Auch im Vorstand des Fördervereins für das ZSE Tübingen arbeiten Graeßner und Rieß eng zusammen.
In der Genomsequenzierungsplattform genomDE sollen die Erfahrungen anderer Länder (beispielsweise Großbritannien, der Niederlande, Frankreich und Schweden) berücksichtigt werden, die bei der medizinischen Nutzung von Genomdaten Deutschland teilweise weit voraus sind. So hatte Großbritannien bereits 2009 das Programm „Genomics England“ initiiert und ist heute unbestritten international führend im Bereich der Genommedizin; inzwischen erhalten dort Patienten, bei denen ein Verdacht auf SE-relevante Mutationen besteht, eine Ganzgenomsequenzierung als Bestandteil der Regelversorgung. Ironisch kommentierte Prof. Dr. Hans-Hilger Ropers, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik und einer der Initiatoren des genomDE-Projektes, dass Deutschland als Spätstarter wenigstens die Fehler vermeiden könne, die andere Länder gemacht haben.
Die Daten sollen bei genomDE pseudonymisiert und nicht anonymisiert gespeichert werden. Zwar wäre Grundlagenforschung auch mit anonymisierten Daten möglich, doch damit Patienten von den wissenschaftlichen Erkenntnissen profitieren können, müssen sie identifizierbar sein. Selbstverständlich wird dabei den Bedenken des Datenschutzes Rechnung getragen. Für jede diagnostische WGS muss eine eingehende, kompetente Beratung vorgeschaltet sein, in der mit dem Patienten abgeklärt wird, welche unerwarteten Befunde er mitgeteilt bekommen will, und welche nicht. Das ist besonders wichtig vor dem Hintergrund, dass es ja möglicherweise keine wirksamen Therapien gegen die genetischen Defekte gibt.
Nationale und europäische Initiativen
Für die Genomsequenzierungen in der Regelversorgung werden Künstliche Intelligenz und Big-Data-Anwendungen zum Tragen kommen. Die Genominitiative genomDE ist auch im Kontext der Maßnahmen zu sehen, mit denen die Bundesregierung und die Bundesländer die Digitalisierung des Gesundheitswesens vorantreiben wollen. Nach den Worten von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist genomDE ein wissensgenerierendes Versorgungskonzept, das die Gesundheitsversorgung in Deutschland auf eine neue Stufe heben wird. Es soll auch mit gesamteuropäischen Aktivitäten verknüpft werden. Als die neue Gesundheitskommissarin der Europäischen Union, Stella Kyriakides, Anfang 2020 ihren Antrittsbesuch in Deutschland machte, unterzeichneten in ihrem Beisein Spahn und die Bundesforschungsministerin Anja Karliczek die deutsche Teilnahme an der EU-Genominitiative „1+Million Genomes“, die das Ziel hat, bis zum Jahr 2022 EU-weit mindestens eine Million menschliche Genome zu sequenzieren und für die genomische Medizin zu nutzen. Für den 30. November 2020 hat das Bundesgesundheitsministerium zu einer nicht-öffentlichen Onlinekonferenz eingeladen, in der genomDE im Zusammenhang mit „1+Million Genomes“ vorgestellt und ihr Potenzial für die genomische Medizin diskutiert wird: für Personalisierte Medikamente und Therapien, für gezielte Prävention und präzise Diagnosen – besonders bei Krebs und Seltenen Erkrankungen.