Experteninterview
Healthcare Movers – Die Zukunft der baden-württembergischen Gesundheitswirtschaft
Mit der Veröffentlichung des „Healthcare Movers 2020 - Baden-Württemberg Report“ werden die Potenziale und Herausforderungen der baden-württembergischen Unternehmen im Bereich der marktseitigen Digitalisierung sichtbar. Im Gespräch mit Dr. Ariane Pott für BIOPRO erklären die Autoren Beatus Hofrichter und Dr. Ursula Kramer, wie man den großen Schritt zur digitalen Avantgarde schaffen kann.
Was verstehen Sie unter einem Healthcare Mover (HCM)?
Dr. Ursula Kramer: Healthcare Movers sind die Unternehmen der Gesundheitswirtschaft, die die digitale Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland und international vorantreiben. Also die Unternehmen, die es besser verstehen als andere, Daten zu nutzen und auch auf Daten aus den unterschiedlichen Bereichen der Versorgung zuzugreifen. Mit diesen Daten machen sie wettbewerbsfähige Geschäftsmodelle, und daraus leitet sich ihre Stärke im Wettbewerbsumfeld ab. Es handelt sich um eine sehr kleine Gruppe, die in Baden-Württemberg und Deutschland die Gesundheitswirtschaft vorantreibt.
Beatus Hofrichter: Wir schauen uns Firmen an, die hauptsächlich digitale Angebote in den Markt bringen, also keine reinen Implantat-Hersteller, die keine digitale Anbindung an den Versorgungsprozess haben und ihr Produkt nur in ihrer Nische platzieren. Wir haben uns Geschäftsmodelle angeschaut, die über die bekannten Ansätze hinausgehen, die man bis dato im Markt kennt. Die Unternehmen versuchen über die Daten mit Partnern, sei es aus Versicherungen, Krankenhäusern, Start-ups und IKT-Firmen (Informations- und Kommunikationstechnik), weitere Segmente im Markt zu eröffnen. Sie bauen damit agilere, patientenorientierte Geschäftsmodelle auf.
Hierbei geht es also auch um digitale Wettbewerbsfähigkeit?
Dr. Ursula Kramer: Die Healthcare Movers sind in der Lage, Prozesse besser zu verstehen, weil sie auf mehr Daten entlang der gesamten Versorgungskette zugreifen können. Mit den Daten identifizieren sie sogenannte „Unmet Needs“, also Versorgungslücken, und leiten daraus neue, wettbewerbsfähige Service- oder Produktkonzepte ab.
Beatus Hofrichter: Das Interessante ist, dass dem ein Shift im „Mindset“, also eine andere Sichtweise auf den Markt zugrunde liegt. Die Digitalisierung gibt es schon lange, sie war immer auf die Produktion und die Qualität der Geräte gerichtet, beziehungsweise hat die Durchführung Klinischer Studien unterstützt. Heute kommt der Einfluss im Bereich der Digitalisierung hauptsächlich von außerhalb der Gesundheitsindustrie, vor allem aus den IT-Firmen. Und diese IT-Firmen denken konsum- und marktorientiert. Die führenden Healthcare Movers haben sich dieses Denken angeeignet und versucht zu verstehen, wie sie näher mit ihren Produkten an den Markt heranrücken können. Das ist der frappierende Unterschied zu den traditionellen Geschäftsmodellen.
Welche Frage haben Sie für die Studie gestellt?
Beatus Hofrichter: Wir haben gefragt, wie die marktseitige, produktseitige Digitalisierung in den Unternehmen voranschreitet. Dies darf nicht verwechselt werden mit der internen Digitalisierung der Unternehmensprozesse, zum Beispiel in der Forschung, Produktion oder Logistik.
Dr. Ursula Kramer: Bei der Frage nach der Digitalisierung werden die meisten Unternehmen sagen, dass sie gut digitalisiert seien. Die Unternehmen leiten dies ab über den Zugang zum Internet, die Nutzung digitaler Kommunikationsmittel und Cloud-Lösungen in den Geschäftsprozessen. Dabei handelt es sich aber um die ebenfalls wichtige Prozessdigitalisierung. Aber der Ansatz, den wir hier bei den Healthcare Movers verfolgen, ist es zu identifizieren, ob Unternehmen die von ihnen belieferten externen Versorgungsketten datenbasiert durchleuchten, um auch Unzufriedenheit und Ineffizienz zu entdecken.
Besonders in der baden-württembergischen Medtech-Branche sind sehr viel Innovationen in den Produkten selbst. Aber viele dieser Unternehmen verstehen es nicht, ihre Produkte durch eine Ankoppelung an Daten auf die Wirksamkeit im Versorgungsprozess zu tracken. Eine Orthese zum Beispiel ist zunächst ein physisches Medizinprodukt. Wenn man die Orthese aber mit einem Sensor erweitert und Informationen erhält, etwa wie häufig die Orthese getragen wird, und wie sich die Bewegung verändert, kann man die Orthese in ihrer Funktionsfähigkeit weiter optimieren. Man könnte zum Beispiel ein Coaching mit Anleitungen zur Durchführung von Eigenübungen für die Träger der Orthesen anbieten, um den Therapiefortschritt zu unterstützen. Hierbei handelt es sich um einen erweiterten Blick auf Produkte und auf Versorgungsprozesse. Und ich glaube, dass dies den Unterschied ausmacht. Die Healthcare Movers gehen den einen Schritt weiter: von der Produktsicht hin zur Versorgungssicht.
Was treibt die Digitalisierung voran?
Beatus Hofrichter: Ein wichtiger Treiber sind die neuen, zukunftsweisenden Technologien, die wir im Bericht „Next Level Technologies“ nennen. Dazu gehören unter anderem die Künstliche Intelligenz (KI) und Machine Learning, in Zukunft wird noch das Quantum Computing dazukommen. Und wir sehen zum Beispiel bei lokalen Biotech-, Bioinformatics- und Pharmafirmen, die zum Teil auch an der Entwicklung der COVID-19-Vaccines mitgewirkt haben, dass sie sehr agil agiert haben. Sie schaffen aufgrund von Computersimulationen, die bis dato nicht möglich waren, in einem Jahr, was normalerweise zehn Jahre dauert. Die Firmen müssen die Fähigkeit entwickeln, sowohl im Markt als auch in der Entwicklung agil zu sein. Diese Ressourcen gleichzeitig aufzubauen, ist besonders für KMUs sehr schwierig. Dadurch entsteht ein erhöhter Wettbewerbsdruck. Wir wollten in unserer Studie feststellen, wie Firmen sich dort positioniert haben und noch platzieren können, um im Wettbewerb auch langfristig noch führend dabei zu sein.
Wie werden die Unternehmen den einzelnen Kategorien - Avantgarde, Visionär, Herausforderer oder Nischenspieler - zugeordnet?
Beatus Hofrichter: Wir haben zwei Einteilungen: Sind die Unternehmen in dem geschilderten digitalen Umfeld nicht vertreten, dann nennen wir sie Traditionalisten. Wenn sie dabei sind, haben wir die vier genannten Quadranten in unseren Auswertungen. Die Nischenspieler sind aber auf der Technologieseite und der Geschäftsmodellseite in ihren Kompetenzen noch nicht sehr ausgeprägt, da sie den Weg in die digitalisierte Welt erst beginnen. Die nächste Stufe bilden die Herausforderer. Sie nutzen ihre bestehenden Technologien und versuchen, diese über die Digitalisierung upzugraden. Als dritte Gruppe gibt es die Visionäre, die eher aus der Start-up-Szene oder dem Biotech- bzw. Pharma-Umfeld kommen. Sie versuchen, mit neuen Geschäftsfeldern im Markt neue Wege zu gehen. Ihnen fehlt jedoch häufig eine gute Anbindung an die Technologie. Die führende Gruppe bilden die Vertreter der Avantgarde, denn sie bringen Technologie und Geschäftsmodell zusammen und treiben so den Markt nach vorne. Wir haben gesehen, dass die Avantgarde heute schon zwischen vier und sieben zukunftsweisende Geschäftsmodelle nutzt. Hierbei handelt es sich häufig um größere Unternehmen aus dem IKT-Bereich, um Versicherer oder sehr innovative Start-ups sowie Konsortien, wie zum Beispiel das HiGHmed aus Heidelberg.
Dr. Ursula Kramer: Die Fähigkeit, die Daten zu nutzen, drückt sich auch in der Fähigkeit aus, mithilfe der Daten neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, beziehungsweise aus den Daten neue Erkenntnisse abzuleiten. Und wer das gut kann, ist in der von Herrn Hofrichter dargestellten Grafik auf beiden Achsen weit vorne und gehört damit zur Avantgarde. Das ist in Baden-Württemberg eine kleine Gruppe von 40 Top-Unternehmen – in Deutschland sind es 168 Firmen. Wenn wir diese nicht hätten, dann würde der Durchschnitt deutlich nach unten gezogen werden, und Baden-Württemberg wäre deutschlandweit nicht führend. Es besteht die Gefahr, dass der Unterschied zwischen dieser Top-Gruppe und den zahlreichen Traditionalisten größer wird. Die Unternehmen werden den Anschluss verlieren, wenn sie sich nicht auf den Weg machen und im digitalisierten Marktumfeld mitspielen.
Wie können die Unternehmen den Schritt in die Digitalisierung wagen? Welchen Tipp haben sie für die Traditionalisten?
Beatus Hofrichter: Es gibt dazu zwei Sichtweisen. Ich würde es nicht so negativ darstellen. Denn bei einer reinen Fertigung chirurgischer Instrumente, beziehungsweise anderer Verbrauchsgüter, darf man die Frage stellen, ob das Unternehmen mit diesem Produkt wirklich in der Digitalisierung sein muss oder nicht. Aber die anderen Unternehmen müssen sich fragen, wie sie für ihre Produkte im Markt langfristig eine digitale Anbindung schaffen. Das heißt, die Kompetenzen zwischen der Produktentwicklung und der Dateneinbindung müssen in den Betrieben aufgebaut werden. Und wo immer möglich, müssen die Unternehmen versuchen, den Markt datenseitig zu verstehen, um eine Rückkopplung zu bekommen, wie Frau Kramer das eben mit der Orthese deutlich gemacht hat. Damit entsteht ein Qualitätsvorteil. Diese Art des Denkens mit in die Produktentwicklung zu integrieren, wäre der größte Hebel, den man hier ansetzen könnte.
Dr. Ursula Kramer: Die Unternehmen müssen den Mindsetshift durchlaufen, weg vom Produkt-Denken hin zum Outcome-Denken. Ziel muss es sein, Versorgungsergebnisse zu verbessern und nicht nur das Produkt zu optimieren. Und deswegen ist auch dieser Report so wichtig. Hier können die Unternehmen reflektieren, welche Datenzugänge ihnen schon vorliegen, und ob, und wie sie durch strategische Kooperationen neue Datenzugänge und Datennutzungsexpertise erlangen können. Daher haben wir im Report ausgeleuchtet, welche Unternehmen aus der integrierten Versorgung und dem IKT-Bereich vorne mit dabei sind und sich damit als interessante Kooperationspartner ins Spiel bringen. Als Tipp kann ich hier mitgeben, dass man das Marktumfeld ein bisschen weiter öffnet, und den Blick weitet über die Grenzen der eigenen Branche hinaus.
Welche Voraussetzungen müssten in Deutschland und Baden-Württemberg für ein besseres Digitalisierungsumfeld geschaffen werden?
Dr. Ursula Kramer: Interoperabilität und Datenstandards spielen eine ganz große Rolle. Und natürlich die Frage, wie man auf dieser Grundlage ein digitales Ökosystem gestaltet. Hier ist es besonders wichtig, dass wir auf europäischer Ebene unsere Potenziale nutzen.
Beatus Hofrichter: Und die Datenverfügbarkeit für Forschung und Produktentwicklung müssen zusammengeführt und vergleichbar gemacht und den Unternehmen im Land zu Verfügung gestellt werden - natürlich unter Einhaltung von Geheimhaltungsvereinbarungen. Denn damit wird sich die Avantgarde weiter ausprägen können, die anderen Healthcare Movers werden ebenfalls weiter nach oben gehoben, und neue Firmen aus dem Kreis der Traditionalisten wachsen in die Liga der Healthcare Movers hinein. Das muss ein langfristiges wirtschaftliches Ziel für Baden-Württemberg sein.