Darmpeptid heilt Lunge
Inhalation von Darmhormon VIP hilft gegen immuntherapiebedingte Lungenentzündung
Tritt bei Krebspatienten die Pneumonitis, eine Entzündung der Lunge als Folge einer Immuntherapie auf, sind ihre Symptome und Einschränkungen der Lungenfunktion oft nur mit Cortison zu lindern. Forscher um Prof. Dr. Joachim Müller-Quernheim und Dr. Björn Frye vom Universitätsklinikum Freiburg haben per Inhalation eines lang bekannten Neuropeptids die Pneumonitis eines Patienten ausheilen können.
Zur Bekämpfung verschiedener Krebsarten wird immer häufiger das körpereigene Abwehrsystem der Patienten als Verbündeter zur Hilfe herangezogen. Die Immunonkologie gilt als bedeutender Hoffnungsträger in der Medizin, auch aufgrund der Erfolge, die sie etwa beim Melanom (schwarzer Hautkrebs) schon erzielte. Doch steht die Wissenschaft wegen zahlreicher Nebenwirkungen dieser Therapien vor großen Herausforderungen. Wenn etwa die Lunge vom eigenen, durch die Immuntherapie aktivierten, Immunsystem attackiert wird, muss nicht selten die Immuntherapie abgebrochen werden und das Immunsystem mit Cortison wieder gebremst werden. Die Gefahr ist, dass der Tumor wieder wachsen kann. Ärzte des Uniklinikums Freiburg brachten einen neuartigen Therapieansatz auf den Weg, indem sie einem Patienten, der als Folge der Immuntherapie eine Lungenentzündung entwickelte, das Darmhormon VIP (vasoaktives intestinales Peptid) zur Inhalation gaben. Die Idee zur Therapie kam dem Team um Prof. Dr. Joachim Müller-Quernheim aufgrund der histologischen und zytologischen Ähnlichkeiten dieser Pneumonitis mit dem Krankheitsbild Sarkoidose. Die Sarkoidose kann ebenfalls als eine überschießende Immunantwort verstanden werden. Vor einigen Jahren konnte Müller-Quernheim mit seinem Team zeigen, dass sich durch die Inhalation mit VIP die Entzündung in der Lunge dämpfen ließ, was zu einer deutlichen Verbesserung des Befindens der Betroffenen führte.
Checkpoints als natürliche Bremsen im Immunsystem
Das menschliche Abwehrsystem sieht sich der gewaltigen Aufgabe gegenüber, den Organismus gegen eindringende Pathogene und beschädigte (Krebs-) Zellen abzuschirmen und gleichzeitig die Sicherheit eigener Körpergewebe zu gewährleisten. Die vielfältigen Mechanismen, mit denen sich das System gegen Autoimmunität schützt, ohne die effektive Antwort gegen Keime aufs Spiel zu setzen, sind ungeheuer komplex. Indem der Körper die Balance zwischen pro- und antiinflammatorischen (entzündungsfördernden und –hemmenden) Faktoren reguliert, versucht er, das Gleichgewicht von autoreaktiven und immundämpfenden Mechanismen herzustellen. Entzündung oder Inflammation ist ein nötiger Prozess, um Pathogene zu eliminieren, kann aber auch zu ernsten Schäden führen. Um die Selbsttoleranz zu fördern, dämpfen regulatorische T-Zellen die Inflammation. Krebszellen tragen als entartete Körperzellen an ihrer Oberfläche tumorassoziierte Antigene, die vom Immunsystem erkannt werden können. Viele Tumorarten haben jedoch Strategien, ihre bösartige Identität zu verschleiern, um vom Immunsystem unentdeckt zu bleiben. Manche besitzen Merkmale auf der Zelloberfläche, die die Aktivität von Effektorzellen abschwächen.
Diese Krebszellen aktivieren sogenannte Checkpoints auf T-Zellen, die als Kontrollpunkte verhindern, dass das Immunsystem eigene Zellen angreift und sichern so ihr Überleben. Die Immuntherapie mit Antikörpern blockiert den Missbrauch der Checkpoint-Rezeptoren durch den Tumor, so dass die Tumorzellen besser erkannt und bekämpft werden können.
Wenn das Immunsystem entfesselt wird
Die Immuntherapie mit Checkpoint-Inhibitoren ist in der Onkologie erfolgreich, kann aber auch starke Nebenwirkungen hervorrufen. Sie hebt nicht nur die Blockade des Immunsystems gegenüber Krebszellen auf, sondern kann auch dazu führen, dass körpereigene Zellen attackiert werden, da Schutzmechanismen inaktiviert sind. „So werden bei bis zu 20 Prozent der behandelten Patienten Schädigungen an der Lunge beobachtet, die im Zusammenhang mit der Immuntherapie stehen“, so der Forscher. „Hierdurch werden dann die Strukturen und das Gewebe der Lunge angegriffen, was Lungenfunktion und Atmung behindert.“
Die immuntherapieassoziierten Nebenwirkungen (irAEs, immune-related adverse events) sind die Folge einer überschießenden Autoimmunreaktion. Während viele Nebenwirkungen aufgrund der Schwere der Krebserkrankung als vertretbar gelten, muss bei schwereren irAEs die Immuntherapie unterbrochen oder sogar eingestellt werden. Die irAE-bedingte Pneumonitis wird mit hoch dosiertem Cortison behandelt. Einerseits ist das Steroidhormon ein immundämpfendes und symptomlinderndes Medikament, das andererseits jedoch aufgrund des breiten Wirkspektrums wieder viele Nebenwirkungen mit sich bringt. Wird Cortison jedoch abgesetzt, so kann die Lungenentzündung auch wieder zurückkehren.
Ein Hormon aus dem Darm heilt die Lunge
Aufgrund der Ähnlichkeit der Entzündung der Lunge bei Pneumonitis und Sarkoidose, beschlossen die Freiburger Wissenschaftler, denselben Therapieansatz, der bei der Sarkoidose erfolgreich war, auch bei einem Patienten mit Pneumonitis anzuwenden, bei dem die Cortisontherapie nur unzureichend half. Die Ursache einer Sarkoidose ist noch unklar, aber es gibt Hinweise, dass das eigene Immunsystem überreagiert. Fast immer ist die Lunge betroffen, gutartige Gewebeknötchen beeinträchtigen die Lungenfunktion und führen zu Hustenreiz und Atemnot. Die untersuchten Zellen aus der Lunge von Sarkoidose-Patienten zeigten eine hohe Produktion proinflammatorischer Zytokine und nur wenige bis gar keine regulatorischen T-Zellen, wie es auch bei der irAE-Pneumonitis beobachtet wurde. Mithilfe eines Neuropeptids aus dem Darm, dem vasoaktiven intestinalen Peptid (VIP), soll nun in einer Studie erforscht werden, ob eine Linderung des Hustens und eine Besserung der Lebensqualität bei Patienten mit Sarkoidose erreicht werden kann.
Nicht nur im Darmepithel, auch in der Lunge und auf Leukozyten, gibt es sehr viele Rezeptoren für das VIP, das als Medikament Aviptadil genannt wird. Wird es inhaliert, stellt man immundämpfende Eigenschaften fest. „Bei der Inhalation von Aviptadil bekommt man eine ordentliche Menge in die Lunge“, sagt Müller-Quernheim, „und bis zum Darm, wo es Nebenwirkungen verursachen könnte, kommt es erst gar nicht.“ Die Ärzte stellten nach vier Wochen fest, dass die Freisetzung von TNF (Tumornekrosefaktor), des wichtigsten entzündungsfördernden Zytokins, in der Lunge signifikant abgenommen hatte. Gleichzeitig zeigte sich eine erhöhte Anzahl an regulatorischen T-Zellen. Beides wird zur Dämpfung der irAE-Pneumonitis von der Lunge dringend benötigt.
Entzündungshemmende Neuropeptide
Bei einem ersten Krebspatienten, der aufgrund eines Melanoms eine Immuntherapie mit Checkpoint-Inhibitoren durchlaufen hatte und eine Pneumonitis entwickelte, konnte Müller-Quernheims Team ebenfalls einen Erfolg mit Aviptadil erzielen. Auch hier produzierten die Lungenzellen zu viel TNF, und der Level an regulatorischen T-Zellen war zu niedrig. Unter der Inhalation mit Aviptadil kehrte sich beides um, und es ging dem Patienten deutlich besser. Aufgrund der lokalen Applikation sollte der Effekt der Immuntherapie gegen den Tumor erhalten bleiben.
In den letzten zehn Jahren wurden verschiedene Neuropeptide identifiziert, die antiinflammatorische Aktivitäten induzieren und eine große Rolle bei der Selbsttoleranz im Immunsystem spielen. Die Signalwege für die Expression von mehreren inflammatorischen Mediatoren werden durch Aviptadil oder andere Neuropeptide unterbrochen. Dies macht sie zu interessanten Kandidaten für die Behandlung von allen Erkrankungen, bei denen das Immunsystem aus der Balance geraten ist. Selbst bei COVID-19 wäre ein Einsatz denkbar: „Das Virus wird in der Regel ganz gut beseitigt“, so Müller-Quernheim, „aber der Lungenschaden entsteht als Kollateralschaden durch die überschießende Immunantwort, und die kann man dämpfen.“