Produkttests unter Realbedingungen
INSPIRE Living Lab: Brücke zwischen Industrie und Klinik
Nicht nur zur Weiterentwicklung des Gesundheitsstandorts Baden-Württemberg, sondern auch zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung sind innovative Ideen und Produkte in der medizinischen Versorgung von hoher Relevanz. Die Brücke zwischen Industrie und Klinik zu schlagen, erweist sich jedoch oft als schwierig. Um diesen Prozess voranzutreiben, wurde 2021 das INSPIRE Living Lab an der Universitätsmedizin Mannheim eröffnet. Hier können Start-ups und KMUs ihre Medizintechnikprodukte im realen klinischen Alltag testen und weiterentwickeln.
Auf den ersten Blick erscheint das INSPIRE Living Lab in der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) wie eine reguläre Krankenstation, trotzdem ist hier alles anders als auf herkömmlichen Stationen. Zwar Teil der Regelversorgung des Krankenhauses, unterscheidet sich die Einrichtung dennoch grundlegend von anderen Bereichen der UMM. Bei der interdisziplinären Urologie- und Orthopädiestation handelt es sich nämlich um das erste Reallabor Deutschlands. Neben Patientinnen und Patienten, klinischem Fachpersonal und Ärztinnen und Ärzten können Besuchende hier unter anderem auch Start-ups oder KMUs antreffen. Das Konzept der Station: Gründerinnen und Gründer sowie Unternehmerinnen und Unternehmer, die eine Medizintechnikentwicklung oder die Idee für eine solche haben, haben im Living Lab die Möglichkeit, ihre Anwendungen direkt im realen klinischen Alltag zu testen, zu optimieren und weiterzuentwickeln.
Erleichterung des Klinikalltags durch Produkttests unter Realbedingungen
Das getestete Produkt soll dabei zur Erleichterung und Verbesserung des Klinikalltags beitragen - diese Maxime steht im Vordergrund. Das ist erfolgreich, denn das System bietet Vorteile für alle Beteiligten: Während das klinische Fachpersonal durch die innovativen Technologien entlastet wird, profitieren insbesondere die Start-ups von dem Reallabor. Viele der klinischen Daten, die sie für eine Zulassung brauchen, werden direkt unter Realbedingungen generiert. Dies unterscheidet sich grundlegend von den üblicherweise präparierten Testumgebungen. Neben dem Sammeln von klinischen Daten für die Zulassung können aber auch Usability Studies durchgeführt werden, um die Nutzbarkeit des Produktes zu analysieren. Auch die Patientinnen und Patienten ziehen einen Vorteil aus der modernen technischen Ausstattung der Station. Zur Grundeinrichtung gehört hier unter anderem ein Tablet an jedem Patientenbett, über das sie unter anderem direkt mit dem Pflegepersonal kommunizieren können.
Motiviert durch die Einführung der MDR und IVDR erkannte man am Klinikum rasch, dass in Zukunft eine umfangreichere klinische Datenerhebung nötig sein würde, um die Funktionalität und Sicherheit von Medizinprodukten zu bestätigen. Mit dem Living Lab bietet man deshalb eine Plattform an, über die schnell und unkompliziert Daten im klinischen Kontext gesammelt werden können. Die Station wurde im Juni 2021 eröffnet, nachdem über mehrere Monate hinweg eine moderne technische Infrastruktur aufgebaut wurde. Gefördert wurde der Umbau von der Europäischen Union, inzwischen trägt sich die Station finanziell selbst. Das Projekt ist Teil des übergeordneten INSPIRE Netzwerks, das das generelle Ziel verfolgt, die technologische Transformation im Gesundheitswesen voranzutreiben. Maßgebliche Unterstützung kommt zudem von der Wirtschaftsförderung der Stadt Mannheim.
Modernste technische Infrastruktur und Expertenwissen
Um die technologische Transformation auf den Krankenstationen im Land voranzutreiben, hat das Living Lab ein dreiphasiges Angebot entwickelt. Zur Vorbereitung können die Unternehmer in einem kostenlosen Erstgespräch mit Mirjam Schleske, der organisatorischen Leiterin des Living Lab, eine Checkliste erarbeiten. In dieser werden die Ziele und Erwartungen für eine Living Lab-Phase definiert, und es wird geklärt, wie die Tests sinnvoll auf der Station durchgeführt werden können. Beratungen durch Fachexperten wie Ärztinnen und Ärzte, klinisches Pflegepersonal oder durch die IT-Abteilung des Krankenhauses gehören ebenfalls zum Angebot. Viele Start-ups suchen insbesondere den Kontakt zu Ärztinnen und Ärzten und erhoffen sich Feedback zur Nutzbarkeit und Relevanz ihrer Innovationen.
Auch die praktische Umsetzung in der Reallabor-Phase kann vielseitig gestaltet werden. Entscheidend ist dabei die Art des Produkts und dessen aktueller Entwicklungsstand. Auch die Frage, ob am Ende der Testphase zum Beispiel eine technische Dokumentation, eine Klinische Studie oder der Nachweis über Referenzkunden stehen soll, prägt die Zeit im Living Lab maßgeblich. Vorhaben, wie größere Klinische Studien oder CE-Zertifizierungen, werden zudem an Partner ausgelagert. Die organisatorische Leitung des Living Labs fungiert dabei als Single Point of Contact für die Expertinnen und Experten und unterstützt die Start-ups somit effektiv während der gesamten Testphase.
Zum Angebot des Living Labs zählt außerdem der Zugriff auf die Datenplattform des Klinikums. Durch den Austausch mit dem Krankenhausinformationssystem kann der Datenpool deutlich vergrößert werden, und das wiederum erleichtert die Optimierung eines Produkts, beispielsweise im Falle der Entwicklung einer App. Dabei hat – wie auch bei allen anderen Tests auf der Station – die datenschutzgerechte Sicherheit höchste Priorität. Vor allem bei Tests, die Patientinnen und Patienten involvieren, ist das Living Lab besonders sorgsam, denn das Wohl und die erfolgreiche Genesung sowie die Einhaltung der persönlichen Datenschutzrechte stehen an erster Stelle. Innovative Anwendungen, bei denen Patientinnen und Patienten involviert sind, erfordern eine intensive Aufklärung und eine explizite Einwilligung. Mit dem Einverständnis können die gesammelten Daten auch für Klinische Studien genutzt werden.
“Bei den Patienten kommen die innovativen Ideen der Start-ups aber durchweg positiv an, und viele haben Freude daran, zur Weiterentwicklung der Innovationen beizutragen”, sagt Schleske. Als wahrer Erfolg des Living Labs gilt das Pilotprojekt Cliniserve, welches seit der Eröffnung der Station getestet wird. Hierbei handelt es sich um eine App, die insbesondere Pflegekräfte entlasten soll. Über ein Tablet oder Smartphone sind diese direkt mit den Patientinnen und Patienten auf ihrer Station vernetzt und können etwaige pflegerische Anfragen priorisieren und somit Abläufe optimieren. Dadurch wird Zeit gespart, die am Ende den Erkrankten zugutekommt.
Alle profitieren – besonders Patientinnen und Patienten
Dass das Reallabor gerade auf einer Orthopädie- und Urologie-Station angesiedelt ist, ist laut Schleske kein Zufall. Da in der Urologie viele mit onkologischen Erkrankungen behandelt werden, könne man hier digitale Projekte ansiedeln. Insbesondere in der Onkologie sind Anwendungen hilfreich sein, die dem Patientenmanagement dienen (z. B. der Überwachung von Symptomen). Außerdem können sie dabei helfen, Lebensqualitäts- und Symptomdaten aus der realen Versorgung für eine Qualitätssicherung zu erheben, auch zum Beispiel für eine Arzneimittelnutzenbewertung.
Die Orthopädie biete sich hingegen hervorragend als Testszenario im Bereich der Sensorik oder Anwendungen mit Bezug zu Rehabilitationsmaßnahmen an. Gerade deshalb würden sich diese interdisziplinären Bereiche besonders gut als Reallabor für digitale Gesundheitsanwendungen eignen, um diese im besten Fall in Zukunft auf die gesamte Klinik zu übertragen. Denn mit dem Living Lab verfolgt man hier auch eine größere Vision: die gesamte Patient Journey in einem voll digitalisierten Krankenhaus darzustellen. Dazu gibt es neben dem Living Lab, welches die stationäre Behandlung digital begleitet, auch Projekte zur digitalen Patientenaufnahme und einen hybriden Operationssaal auf dem Gelände des Klinikums.
Wenn es eines gibt, das die organisatorische Leiterin Start-ups und KMUs auf den Weg geben möchte, dann ist es, so früh wie möglich den Kontakt zur Klinik zu suchen. Denn bereits bei der Ideenentwicklung könne ein erster Dialog mit der Klinik hilfreich und zeitsparend für die weitere Entwicklung sein: “Mit denen zu sprechen, die später mit dem Produkt arbeiten werden, gestaltet die Entwicklung wesentlich effizienter, da von Beginn an auf die realen Bedürfnisse im Klinikalltag eingegangen werden kann. Und darum geht es beim Living Lab ja schließlich: schnell, effektiv und sicher Innovationen in den Klinikalltag zu implementieren, damit dieser für alle Beteiligten verbessert wird.”