Arbeitsplatz der Zukunft
Intelligentes Körperunterstützungssystem für Operierende
OP-Personal verweilt stundenlang in anstrengenden Körperhaltungen, was Konzentration und Qualität erheblich schwächt. Während ein OP-Saal immer mehr vernetzt und mit modernster Medizintechnik ausgestattet ist, sind die Bedingungen für die Akteurinnen und Akteure noch rückständig. Das Start-up Hellstern medical bietet eine Lösung, um folgeträchtigen Schmerzen, Ermüdung und Fehleingriffen effektiv vorzubeugen.
Sie hat den Nerv getroffen: Sabrina Hellstern spricht mit ihrem Produkt nicht nur Chirurginnen und Chirurgen an, sondern findet auch in der Öffentlichkeit zunehmend Anerkennung. Kaum hatte sie 2019 das Unternehmen Hellstern medical gegründet, fand sie sich beim Gründerpreis Baden-Württemberg, Darboven IDEE-Förderpreis und Gründerwettbewerb WECONOMY unter den Bestplatzierten wieder. Nun bietet Hellstern medical Beteiligungsinvestments in der Seed-Phase. Was steckt hinter der Start-up-Idee?
Nachlassende Präzision durch ermüdende Zwangshaltungen
Mit ihrer jahrelangen Erfahrung im Vertrieb von Medizintechnik-Produkten kennt die Unternehmerin die Bedürfnisse des Klinikpersonals. Das Feedback zahlreicher Chirurginnen und Chirurgen zu Belastungen im ermüdenden OP-Alltag markierte den Startpunkt von Hellsterns Analysen. Ihr Ergebnis: Das Problem ist weltweit präsent und scheint wie eingefroren – entgegen des technologischen Fortschritts durch hochmodernes Equipment. „Operateure führen ihre Arbeiten am OP-Tisch in anstrengenden Körperhaltungen wie noch vor 100 Jahren aus“, erklärt die Gründerin. Bei Bauchraum- oder Gehirn-Operationen müssen Chirurgen bis zu acht bzw. zwölf Stunden mit gebeugtem Oberkörper und ausgestreckten Armhaltungen, teils in schrägen Zwanghaltungen, stehen.
Inzwischen berichten Ärztinnen und Ärzte offen von ihrer Arbeitsplatzsituation: Hellstern konnte erfahren, dass die ermüdenden Handlungen nachlassende Konzentration, Präzision und Sehschärfe zur Folge haben, chirurgisches Fatigue-Syndrom genannt. Damit nicht genug: Um die unterschiedlichen Körpergrößen auszugleichen, steht das medizinische Fachpersonal auf höhenverstellbaren, harten Stahlauftritten, was Gefäßerkrankungen begünstigt und zur schnelleren Muskelermüdung und somit zu nachlassender Konzentration führt. Die Folge? Neben Verzögerungen in der Operation kann es so zu Behandlungsfehlern kommen. „75 Prozent der OP-Beschäftigten leiden häufig unter starken Schmerzen sowie Muskel- und Skeletterkrankungen“, betont die Geschäftsführerin des Reutlinger Start-ups. „Ein Großteil nimmt dauerhaft Schmerzmittel ein. Die Berufsgenossenschaft empfiehlt schon seit Jahren Stehhilfen für sie, doch ein profitables Produkt hat bisher gefehlt. Viele Handwerker-Arbeitsplätze sind ergonomischer gestaltet, obwohl bei ihnen ein Fehler kein Menschenleben gefährdet.“
Perfekt gestützt – das Entwicklungsteam
Der Startpunkt war damit gesetzt, nun ging es Schlag auf Schlag. Die Medizintechnik-Expertin nahm die Anforderungen im OP auf und erarbeitete mit Enthusiasmus und einer gewissen Portion Risikobereitschaft einen technischen Lösungsansatz und einen Businessplan. Obwohl sie noch kein Budget hatte, baute sie ein interdisziplinäres Team mit hoher Kompetenz auf. Mit den Maschinenbau- bzw. Informationstechnik-Ingenieuren Harald Hager und Alexander Strobel hat sie erfahrene Konstrukteure an Bord, die schon viele Medizintechnik-Produkte zur Serienreife geführt haben. „Die Kombination aus Verfahrenstechnik, Maschinenbau, Ergonomie und Produktentwicklung haben das Projekt von Anfang an extrem spannend gemacht“, erklärt Hager. Expertise im strategischen Aufbau und finanztaktischen Fragen steuert die Ingenieurin und Kauffrau Claudia Sodha bei. Das Team wird komplettiert durch Prof. Dr. Martin Schuhmann, Oberarzt der Neurochirurgie des Universitätsklinikums Tübingen, und Dr. Felix Neunhoeffer, Oberarzt an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen. Beide haben jeden Entwicklungsschritt begleitet und zusammen mit weiteren chirurgischen Spezialistinnen und Spezialisten einzelne Prototyp-Stadien getestet, sodass alle Anforderungen verschiedenster Disziplinen abgedeckt werden.
Astronautensitz mit viel Freiraum
In 15-monatiger Optimierungsarbeit ist das serienreife Produkt entstanden. Das System erscheint wie ein Astronautensitz, jedoch mit viel Freiraum. „Unser intuitiv bedienbares und intelligentes Körperunterstützungssystem ist sensorgesteuert.“ Hellstern beschreibt es als eine Art Verschmelzung aus OP-Stuhl und Exoskelett – „not only a chair“, was ihm den Namen noac verleiht. „Das Supportsystem mit Höhenausgleich ermöglicht Chirurgen jeder Größe und Statur, ergonomisch zu operieren, im Stehen oder Sitzen. An definierten Kontaktpunkten werden sie dabei optimal entlastet.“ So bietet noac eine Hüft- und Brustkorbstütze und ermöglicht schnelle und intuitive Positionswechsel. Der große Vorteil: Der oder die Operierende muss die normalen Bewegungsabläufe mit der flexiblen Unterstützung nicht umstellen. Auch Schräghaltungen sind durch die hohe Variabilität der Konstruktion möglich. „Die Entwicklung von noac war eine Herausforderung, doch wir waren von Anfang an von der Idee überzeugt“, so der Ingenieur Strobel. Die Mühen haben sich gelohnt: In Studien konnte nachgewiesen werden, dass durch das ergonomische Arbeiten mit noac Muskelermüdung und Schmerzen signifikant reduziert werden. Die Ergebnisse aus der eingereichten randomisierten Crossover-Studie mit ärztlichen Probandinnen und Probanden der Arbeitsmedizin und Neurologie einer Universitätsklinik werden in Kürze veröffentlicht.
Der Sprung in den Markt
Durch die jahrelange Tätigkeit im Vertrieb von Medizinprodukten hat Hellstern viel Erfahrung mit Markteinführungen: „Rund 60 Prozent des Umsatzes einer Klinik werden im OP erzielt. Jede Effizienzsteigerung wirkt sich daher positiv auf die Rentabilität aus.“ Denn verlängerte Operationen und Behandlungsfehler sind kostspielig. Mit noac sollen sie vermieden werden. Zudem lassen sich die Anzahl der Fehltage und Kosten durch leerstehende OP-Säle aufgrund von Skelett- und Muskelerkrankungen des Personals reduzieren. Letztendlich geht es um die Patientensicherheit: „Patienten könnten zukünftig ihre Klinikwahl davon abhängig machen, ob im OP unterstützt oder noch herkömmlich operiert wird. Denn schließlich wünschen sie sich schnellere, präzisere und weniger riskante Eingriffe“, sagt die Gründerin. „Den kann ein OP-Roboter aufgrund seiner hohen Kosten nicht erfüllen.“
Den Wettbewerbsvorteil hat sich das Unternehmen durch die Patenterteilung ebenso gesichert wie die mehrfach ausgezeichnete Projekt- und Finanzplanung. Das Alleinstellungsmerkmal ist offensichtlich. „Es gibt keine vergleichbare Lösung und mit den Medtech-Giganten USA und Europa ist das Marktpotenzial milliardenschwer. Das Feedback ist sehr gut, wir haben viele Entwicklungskooperationen mit Kliniken und laufende Gespräche mit Krankenkassen sowie der Berufsgenossenschaft“, so Hellstern. Die Skalierung ist fest im Blick, denn es laufen bereits weitere Planungen zu Personal und Produktion.
Der Zielmarkt ist definiert. Das Unternehmen bietet nun Beteiligungsangebote für die Seed-Finanzierung und den Exit. „Uns ist auch wichtig, sich über Internationalisierungsstrategien auszutauschen und dadurch besser und schneller voranzukommen. Denkt man beispielsweise an lange Gehirn-Operationen bei Kindern, kann es nur oberstes Ziel sein, dass der Operateur oder die Operateurin beste Bedingungen für die Handgriffe bekommt.“