Neurodegenerative Erkrankungen
Künstliche Intelligenz ermöglicht frühzeitige Diagnose von Demenz
Vor neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson fürchten wir uns alle. Dabei gibt es in zunehmendem Maße Therapien, die zwar nicht die Ursache heilen, aber den Krankheitsverlauf zumindest verlangsamen - vorausgesetzt, die Diagnose wird möglichst früh gestellt. Das Tübinger Start-up AIRAmed hat eine Software entwickelt, die mithilfe Künstlicher Intelligenz Veränderungen des Gehirns misst und erkennt, lange bevor sie für die Ärztin und den Arzt ersichtlich sind.
Demenzen mit ihren Sonderformen der Alzheimerkrankheit, Multiple Sklerose oder Parkinsonkrankheit – all dies sind neurodegenerative Erkrankungen, deren Ursache das Absterben von Nervenzellen im Gehirn ist – sind weit verbreitet: Von Demenz sind weltweit derzeit rund 65 Mio. Menschen betroffen, und schätzungsweise kommt alle drei Sekunden eine neue Erkrankung hinzu.1 Therapien, die solche Krankheiten heilen, gibt es bis heute praktisch nicht. Man kann aber den Verlauf mithilfe individueller Behandlungen erheblich verzögern. Aber nur, falls die Diagnose sehr frühzeitig gestellt wird.
Die aktuell gängigste Methode, eine solche Diagnose zu stellen, ist neben neuropsychologischen Testverfahren und der Untersuchung des Nervenwassers auch die Untersuchung des Hirnvolumens per MRT-Bildgebung (Magnetresonanztomografie). Eine Abnahme des Hirnvolumens ist zwar mit fortschreitendem Alter völlig normal und beträgt bei jedem von uns nach dem 50. Lebensjahr etwa zwei Prozent jährlich. Ein sehr viel stärkerer Rückgang ist allerdings ein deutlicher Marker für das Vorliegen einer neurodegenerativen Erkrankung.
Was sich für den Laien klar und eindeutig anhört, ist allerdings in der Praxis ganz und gar nicht so: Die Interpretation der Aufnahmen ist sehr stark vom geschulten Auge von Ärztin oder Arzt abhängig. Und völlig unabhängig von deren Kompetenz gibt es bei der reinen Sichtbefundung dieser radiologischen Bilddaten sehr viel Spielraum. Doch gerade bei neurodegenerativen Erkrankungen ist es wichtig, schon kleinste Veränderungen des Gehirnvolumens zu erkennen, um eine Diagnose möglichst früh stellen zu können. Mit bloßem Auge ist das sehr schwer und deshalb meist erst in einem fortgeschrittenen Stadium zuverlässig möglich – oft zu spät für eine verzögernde Therapie.
Messbarkeit der Befunde als großer Vorteil
Höchste Zeit für objektive Messwerte, wie die beiden Oberärzte Dr. Tobias Lindig und PD Dr. Benjamin Bender aus der Abteilung Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie des Universitätsklinikums Tübingen schon vor Jahren fanden und begannen, eine Softwarelösung unter Verwendung Künstlicher Intelligenz (KI) zu entwickeln. Mit Erfolg: Denn mit ihrer Softwarelösung AIRAscore structure haben die Experten mittlerweile ein Werkzeug geschaffen, um das Hirnvolumen und dessen Veränderungen zu vermessen. Basis der Software sind neuronale Netze, die MRT-Daten des Kopfes exakt und gleichzeitig schnell erfassen. Die daraus resultierenden objektiven, ganz konkreten Messwerte werden anschließend mit einem großen Bestand an Referenzdaten verglichen. So lässt sich prüfen, ob individuelle Werte für das jeweilige Geschlecht und Alter normal sind oder abweichen und damit Anzeichen für eine Erkrankung sind.
Damit ihr innovatives Medizinprodukt möglichst schnell bei den Patientinnen und Patienten ankommt, gründeten die beiden Mediziner 2019 gemeinsam mit der Betriebswirtin Christiane Lindig das Start-up AIRAmed GmbH, das Erkenntnisse aus der akademischen Forschung in KI-Software umsetzt. „Die bisherige radiologische Befundung unterscheidet sich in einer Sache eklatant von anderen medizinischen Disziplinen – und das ist die objektive Messbarkeit“, erklärt Christiane Lindig, Leiterin der Unternehmensentwicklung. „Lange war die Technik noch nicht so weit, um große Mengen an 3D-Daten zu verarbeiten. Seit einiger Zeit jedoch bieten neue Grafikkarten diese Möglichkeit. So sind wir in der Lage, mithilfe einer Vielzahl an eigenen und fremden Daten neuronale Netze so zu trainieren, dass diese verlässliche und objektive Messwerte liefern.“
Analyse dauert keine fünf Minuten
Zur Analyse werden die Bilddaten direkt vom MRT-Scanner einer radiologischen Praxis oder Klinik pseudonymisiert auf die Server des Tübinger Start-ups gesendet und dort mithilfe von KI verarbeitet. Die resultierenden Messwerte der verschiedenen Gehirnregionen gelangen schon innerhalb weniger Minuten in Form eines Auswertungsberichts – ganz ähnlich einem Laborbefund – zurück zu Ärztin oder Arzt. Diese können dann bei Abweichungen von der Norm sofort noch vor Ort mit den Betroffenen das weitere Vorgehen besprechen und wichtige Therapien umgehend einleiten. Auch die Überwachung der gewählten Medikation und Verlaufskontrollen in kurzen Zeitabständen sind möglich, sodass zeitnah überprüft werden kann, ob eine Therapie anspricht – oder diese gegebenenfalls umgehend angepasst werden kann.
„Wir stellen ausdrücklich keine Diagnose, sondern bieten dem befundenden Arzt – in der Regel Radiologe, Neurologe oder Psychiater – mit objektiven Messwerten eine wichtige Unterstützung an“, sagt Lindig. „Die Software erkennt alles, was Einfluss auf das Hirnvolumen hat, und so können Krankheiten wie Demenz, Parkinson, Multiple Sklerose oder auch viele seltene neurodegenerative Erkrankungen schon in einem sehr frühen Stadium erkannt werden.“ Die Untersuchung wird allerdings nicht von den Krankenkassen übernommen. Die Kosten dafür seien aber in den meisten Fällen erschwinglich, wenn die MRT-Aufnahmen mit ärztlicher Überweisung erstellt werden, so Lindig.
Auch wenn es noch keine ursächliche Therapie für die meisten neurodegenerativen Erkrankungen gibt, so hat sich doch in den letzten 15 Jahren enorm viel getan. Vor einigen Wochen wurde in den USA nach 18 Jahren wieder ein neues Alzheimer-Medikament zugelassen. Auch für Parkinson- und Multiple-Sklerose-Erkrankte gibt es bereits eine Vielzahl effektiver Medikamente, die den Krankheitsverlauf verzögern, wenn sie in einem frühen Stadium verordnet werden können. „Für manche Patienten ist es aber auch einfach nur eine Erleichterung zu wissen, womit sie es zu tun haben“, sagt Lindig
Daten sind das A und O
AIRAmed steht für „Artificial Intelligence in Radiology“. Das junge Unternehmen gilt mit seinem Team aus 16 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Experte im Bereich der quantitativen Neuroradiologie. Man kooperiert in Forschung und Entwicklung nicht nur mit dem Universitätsklinikum, sondern auch mit anderen Institutionen, darunter das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik und weitere Einrichtungen des Cyber Valley. „Unser Hauptbedarf sind pseudonymisierte Gesundheitsdaten“, sagt die Gründerin. „Denn Daten sind das A und O für die Entwicklung innovativer KI-Lösungen. Jede KI ist nur so gut, wie die Daten, die ihr zugrunde liegen.“
In den nächsten Wochen und Monaten steht für die Tübinger KI-Spezialisten der Marktgang an. „Einige Pilot-Praxen und -Kliniken haben unsere Software schon im Einsatz, der breite Vertrieb beginnt jetzt“, berichtet Lindig. „Die Zertifizierung als CE-gezeichnetes Medizinprodukt hat viel Zeit in Anspruch genommen. Nun stehen konkrete Gespräche mit Investoren und möglichen Vertriebspartnern an. Und natürlich die stetige Verbesserung unserer Software-Lösung sowie die Erweiterung der Produktpalette. Der Markt der quantitativen Radiologie ist international erst im Entstehen, aber wir sind zuversichtlich, dass die Präzision unserer Produkte in Kombination mit dem Dienstleistungs- und Servicebewusstsein von AIRAmed, langfristig überzeugen werden.“