Künstliche Intelligenz für die Augenheilkunde
Netzhauterkrankungen wie die altersabhängige Makuladegeneration (AMD) sind heute behandelbar. Prognosen über den individuellen Krankheitsverlauf können aber nur schwer getroffen werden. Um Ängste zu nehmen und die Therapie für alle Beteiligten planbarer machen zu können, wird derzeit an der Universitätsaugenklinik in Freiburg in einer Forschungskooperation ein neues System entwickelt. Es soll unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz den Therapieerfolg aus Bild- und Patientendaten vorhersagen. Erste Ergebnisse sind schon vorzuweisen.
Erkrankungen der Netzhaut, vor allem die feuchte altersbedingte Makuladegeneration (AMD), sind die häufigste Ursache für Erblindungen und Sehminderungen in den Industrienationen. Allein in Deutschland leiden rund sechs Millionen Menschen an einer AMD. Dabei zerstört ein fehlgeleiteter körpereigener Prozess die Netzhaut, ausgehend von der Mitte des Sehfelds, dem Gelben Fleck (Makula). Unbehandelt kann die Erkrankung innerhalb kürzester Zeit zur Blindheit führen. Die Fähigkeit zu lesen, ein Fahrzeug zu führen oder Gesichter zu erkennen, ist dann so stark eingeschränkt, dass Betroffene nur noch unter großen Schwierigkeiten am gewohnten Leben teilnehmen können.
Eine wirksame Behandlungsmöglichkeit der AMD – die sogenannte Anti-VEGF-Therapie (VEGF: Vascular Endothelial Growth Factor) – haben Augenärzte seit etwa zehn Jahren zur Hand. Dabei bekommt der Patient mehrfach nach individuell vereinbarten Zeitabständen ein Medikament – den VEGF-Inhibitor – in den Glaskörper des Auges gespritzt. Das Fortschreiten der Erkrankung kann damit im besten Fall gestoppt, zumindest aber verlangsamt werden.
Mit Deep Learning zu Therapievorhersagen
„Bei der Injektion ins Auge handelt es sich um einen für die Erkrankten unangenehmen Eingriff, der zudem mehrmals in anfangs monatlichen Abständen wiederholt werden muss“, erklärt Prof. Dr. Andreas Stahl, Geschäftsführender Oberarzt und Leiter der Arbeitsgruppe Angiogenese an der Universitätsaugenklinik Freiburg. Dort verfügt man bereits über langjährige Erfahrungen mit dieser Behandlung, und dennoch liegen einzelne Aspekte der Krankheit weiterhin im Dunkeln. „Leider haben wir aufgrund des sehr heterogenen Verlaufs der Erkrankung bislang keine gute Möglichkeit, unseren Patienten vorauszusagen, wie häufig sie gespritzt werden müssen und wie sich ihre Sehschärfe entwickeln wird. So haben wir Patienten, die nur drei Behandlungen benötigten, aber auch solche mit über 60 Behandlungen. Diese fehlende Vorhersagbarkeit ist für den Arzt und den Patienten gleichermaßen unbefriedigend.“
Deshalb stellte man in sich an der Augenklinik die Frage, ob man nicht ein System entwickeln könne, welches vorhersagen kann, wie viele Injektionen benötigt werden und wie erfolgreich diese wirken. Daraus entstand das BMBF-geförderte Verbundprojekt „Therapieprädiktion durch OCT und Patientendemografie in der Ophthalmologie (TOPOs)“, in dem die Augenklinik nun seit fast zwei Jahren gemeinsam mit Informatikern der Universität Rostock und der Hochschule Mittweida sowie dem Freiburger Text-Mining-Spezialisten Averbis GmbH arbeitet. Die Forscher durchsuchen Arztbriefe und Bildbefunde von Patienten mithilfe von Deep Learning nach Informationen, aus denen sich personalisierte Vorhersagen über den individuellen Krankheitsverlauf bei AMD und verwandten Erkrankungen wie dem diabetischen Makulaödem oder dem retinalen Venenverschluss ableiten lassen.
In OCT-Bilddaten steckt eine Fülle an ungenutzter Information
Wichtiges Ausgangsmaterial sind dabei Bildaufnahmen, die mithilfe der Optischen Kohärenztomografie (OCT) gemacht werden. „Dank OCT erhalten wir hochaufgelöste Aufnahmen der Netzhaut, nichtinvasiv und ohne schädliche Strahlung. Dieses Verfahren hat gemeinsam mit den VEGF-Inhibitoren die Netzhauttherapie in den letzten Jahren revolutioniert“, so der Mediziner. „Und weil die Bilder so viele Details bieten, dass wir sie mit unseren menschlichen Möglichkeiten nicht vollständig überblicken können, haben wir uns gefragt, ob die Bilddaten möglicherweise subtile Informationen enthalten, die uns etwas über die Aggressivität und den künftigen Verlauf der Erkrankung sagen können.“
Ausgewertet werden die OCT-Bilder zusammen mit klinischen und vollständig anonymisierten Informationen aus Arztbriefen. „Bisher wissen wir noch gar nicht, ob manche Zusatzinformationen – wie etwa Schlaganfall oder Herzinfarkt – relevant sein könnten“, meint Stahl. „Vielleicht steckt aber hierin ein Muster, das mit dem Behandlungsverlauf korreliert, das wir aber bisher nicht erkennen können?“ Die Analysen der klinischen Texte sind Aufgabe der Averbis GmbH, die relevante Informationen aus großen Datenmengen herausfiltert. Dabei müssen die Arztbriefe nicht standardisiert sein, sondern werden durch intelligente Suchsysteme automatisch in ihrem Kontext analysiert und bewertet.
Neuronale Netze werden per Lernset trainiert
Die Bilddaten lassen sich dank Deep Learning inzwischen automatisch analysieren. Dieser Teil ist Aufgabe der Medieninformatik an der Hochschule Mittweida (Leitung Prof. Dr. Marc Ritter). Künstliche neuronale Netze tasten jedes Bild nach möglichen Frühindikatoren für den weiteren Krankheitsverlauf ab. Sie sind in der Lage, selbstständig verborgene Zusammenhänge zwischen optischen Befundmerkmalen und künftigem Verlauf der Sehfähigkeit zu erlernen, sofern sie mit einer großen Menge an geeignetem Bildmaterial trainiert werden. Wiederholt man dies mit den sehr heterogenen Krankheitsverläufen von vielen tausend Patienten, perfektioniert sich der Algorithmus so lange, bis er eine Verknüpfung von Ausgangsbefunden und wahrscheinlichem Ergebnis auch für unbekannte Datensätze herstellen kann.
Im Ergebnis entstehen große strukturierte Datentabellen, in denen sich wichtige Zusammenhänge für den Krankheitsverlauf verbergen können. Um diese Informationen sichtbar zu machen, haben Forscher des Rostocker Lehrstuhls Computergraphik (Leitung Prof. Dr. Paul Rosenthal) ein interaktives visuelles Software-Werkzeug entwickelt, das aus der individuellen Patientenhistorie erkennen lässt, ob beispielsweise ein akuter Sehschärfeverlust tatsächlich mit dem Fortschreiten der Netzhauterkrankung zusammenhängt oder stattdessen von einer gleichzeitig vorliegenden anderen Augenerkrankung wie etwa einem Grauen Star verursacht wird – eine für die weitere Prognose unerlässliche Information.
Maschine soll nicht den Menschen ersetzen
Die Forscher legen großen Wert darauf zu betonen, dass es sich bei ihrem Ansatz um keine automatisierte Therapie handelt, sondern um eine Therapieunterstützung: „Wenn unser Patient weiß, dass vielleicht schon nach drei Spritzen alles gut ist, nimmt ihm das die Angst vor der Behandlung, und wir können ihn motivieren, die unangenehme Therapie fortzuführen“, betont Stahl. „Andererseits können wir Patienten mit weniger günstigem Ausgangsbefund gezielter auf einen wahrscheinlichen längeren Behandlungsweg vorbereiten. Zu wissen, welchen Weg man vor sich hat, kann die Therapieadhärenz deutlich verbessern. Künstliche Intelligenz kann hierbei den Augenarzt in der Therapieplanung unterstützen, aber sicherlich nicht ersetzen.“
Mit ihren ersten Resultaten sehen sich die Projektpartner auf einem guten Weg. „Wir sind momentan an einem Punkt, an dem wir vom System schon recht gute Schätzungen für Ist-Werte und möglicherweise auch frühe Prognose-Indikatoren bekommen“, so Stahl. „Was wir uns jetzt im dritten Jahr des Projekts vorgenommen haben, ist, auf dieser Grundlage valide prognostische Langzeitwerte zu erhalten – eine große Herausforderung, die wir aber optimistisch angehen.“