DNA-Nanotechnologie
Künstliches Zytoskelett aus DNA für synthetische Zellen
Die Physikerinnen Prof. Dr. Kerstin Göpfrich und Prof. Dr. Laura Na Liu möchten das Leben von Grund auf verstehen und deshalb eine künstliche Zelle konstruieren. Als Baumaterial verwenden sie allerdings keine natürlichen Proteinbausteine, sondern dreidimensionale DNA-Strukturen. In einem ersten Schritt gelang es ihnen, ein künstliches Zellskelett zu erschaffen, das sich wie das biologische Vorbild dynamisch auf- und abbaut sowie Vesikel transportieren kann.
„Als Physikerin denke ich gerne in Modellen. Meine Arbeitsgruppe entwickelt eine synthetische Modellzelle, die auf vereinfachte Art und Weise die Funktionen einer biologischen Zelle nachstellt“, erklärt Prof. Dr. Kerstin Göpfrich vom Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg (ZMBH) ihren wissenschaftlichen Ansatz. Mit dieser Strategie will die Forscherin, die auch noch eine Gruppe am Max-Planck-Institut (MPI) für medizinische Forschung leitet, langfristig eine lebende Zelle von Grund auf neu konstruieren. Zusammen mit der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Laura Na Liu vom 2. Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart ist es in einem ersten Schritt bereits gelungen, funktionsfähige, künstliche Filamente herzustellen, die elementare Eigenschaften des essenziellen Zellskeletts erfüllen. „Wir nutzen hierbei DNA als Material, um präzise dreidimensionale Strukturen zu erzeugen und so fundamentale physikalische Prozesse zu verstehen“, erläutert Liu, die überdies Fellow des MPI für Festkörperforschung ist.
Kleinste Bauteile mittels DNA-Nanotechnologie
In lebenden Zellen dient die Desoxyribonukleinsäure (DNA) als Träger der Erbinformation und liegt gut verpackt in Form einer doppelsträngigen Helix im Zellkern vor. Das Rückgrat der Stränge besteht aus Molekülen des Zuckers Desoxyribose, die über einen Phosphatrest miteinander verknüpft sind, und von denen jeweils eine der vier Nukleinbasen (Adenin, Cytosin, Guanin oder Thymin) abzweigt. Die Sequenz, also die Abfolge der Basen, dient dabei zur Verschlüsselung der genetischen Information.
In einer DNA-Doppelhelix interagiert jede Base mit ihrem passenden, komplementären Partner auf dem gegenüberliegenden Strang, wobei Adenin und Thymin sowie Cytosin und Guanin ein Paar bilden. Bei Vorliegen eines Einzelstranges können sich Bereiche dann zusammenlagern, wenn die Sequenzen komplementär zueinander sind. Treibende Kraft ist hierbei der Energiezustand des Moleküls; je mehr Basenpaarungen ausgebildet werden, desto energetisch günstiger ist dies. Bereits in den frühen 1980er Jahren erkannte der Biochemiker und Kristallograf Nadrian Seeman, dass sich einzelsträngige DNA-Stücke abhängig von ihrer Sequenz selbstständig und vorhersagbar falten und verschiedene Stränge stabil miteinander überkreuzt werden können. Kombiniert man die Sequenzen intelligent, entstehen dreidimensionale Strukturen. Als erstes Objekt konstruierte Seeman 1991 einen Würfel und begründete damit die DNA-Nanotechnologie.
Der Informatiker Paul Rothemund entwickelte auf dieser Basis dann zu Beginn des Jahrtausends eine auch als DNA-Origami bezeichnete Falttechnik. Mit ihr lassen sich lange DNA-Stränge - meist viralen Ursprungs - mithilfe kurzer synthetischer Hilfsstränge verlässlich zu beliebigen komplexen Gebilden formen.
Was zeichnet eine lebende Zelle aus?
Liu ist Expertin auf dem Gebiet der DNA-Origami-Technologie und hat bereits unterschiedliche Nanoroboter konstruiert, die nach einem äußeren Stimulus Dreh-, Gleit- oder Geh-Bewegungen ausführen können. Sie erläutert: „Wir haben verschiedenste Bewegungen von Zellmolekülen nachgeahmt. Jetzt versuchen wir, diese künstlichen Bauteile in synthetische Zellen zu integrieren. Wenn wir wirklich verstehen wollen, wie eine Zelle funktioniert, dann müssen wir sie von Grund auf neu bauen.“
Göpfrich spezialisierte sich bereits in ihrer Doktorarbeit auf den Einbau künstlicher DNA-Elemente in Vesikel als spätere Grundlage zur Erschaffung einer lebenden Zelle. Sie ist überzeugt: „Wenn man nur natürliche Bauteile verwendet, die über Jahrmillionen durch Evolution entstanden sind, dann sind diese sehr komplex. Eine abstrakte Denkweise, die neue Elemente hervorbringt, macht es einfacher, Leben nachzubauen.“ Nach ihrer Ansicht kann eine synthetische Zelle durchaus anders gestaltet sein als ihr natürliches Vorbild. Genetische Information, also DNA, muss nicht zwangsläufig in RNA umgeschrieben (Transkription) und dann in Proteine übersetzt (Translation) werden. Nimmt man als Minimalanforderung für lebende Systeme die Fähigkeit zur Selbstreplikation und Evolution, dann sind auch andere Lösungen denkbar. „DNA-Nanotechnologie erlaubt es, ganz präzise Bauteile zu entwerfen, oftmals mit mehr Spielraum als Protein Engineering aktuell bieten kann. Außerdem haben wir hier einen direkten Link zwischen Information und Funktion, wir brauchen keine Transkription und Translation.“
Künstliches Zytoskelett aus DNA-Filamenten
Die beiden exzellenten Physikerinnen trafen sich in Stuttgart, wo Göpfrich einige Jahre am MPI für Intelligente Systeme tätig war. Gemeinsam mit dem Doktoranden Kevin Jahnke und dem Postdoktoranden Dr. Pengfei Zhan gelang es ihnen, das Grundgerüst einer eukaryotischen Zelle, das Zytoskelett, nachzubauen. Hierfür nutzten sie bereits existierende DNA-Stücke mit einer Länge von nur 50 Basenpaaren und kapselten sie unter Zuhilfenahme mikrofluidischer Methoden in zellähnliche Kompartimente ein. Fünf verschiedene DNA-Stränge formen gemeinsam ein sogenanntes „Tile“, Hunderte dieser „Tiles“ können sich zusammenlagern und röhrenförmige Filamente bilden. „Wir lassen die DNA-Fragmente synthetisch herstellen, mischen sie im Labor zusammen und erhitzen sie. Beim Abkühlen streben sie dann den energetisch günstigsten Zustand an und bilden Filamente“, beschreibt Göpfrich den Ablauf des Prozesses. Liu ergänzt: „Die Filamente sind mehrere Mikrometer lang, ihr Durchmesser beträgt aber nur zehn bis zwölf Nanometer.“ Damit ähneln sie den Mikrotubuli in Zellen, die ebenfalls aus vielen kleinen Elementen, den Tubulin-Molekülen, aufgebaut sind.
Das natürliche Zytoskelett gibt der Zelle einerseits ihre Form, ist aber außerdem auch für den Molekültransport innerhalb der Zelle und Bewegungen verantwortlich. Es ist einem ständigen Auf- und Abbau unterworfen abhängig von den umgebenden Stimuli. Nach Zugabe weiterer Elemente konnten die Forschenden auch diese Eigenschaft nachbilden, genauso wie das gerichtete Wachstum ausgehend von einem Startsegment. Der Zusammenbau ließ sich wie in Zellen durch den physiologischen Energieträger ATP (Adenosintriphosphat) auslösen, und die Wachstumsdynamik des künstlichen Systems entsprach dabei den natürlichen Filamenten, auch wenn das Wachstum noch nicht unter ATP-Verbrauch stattfand.
Nach Ansicht Göpfrichs ist die Nachbildung der komplexen Transportfunktion der anspruchsvollste Teil der Forschungsarbeiten, die im August 2022 im renommierten Fachjournal Nature Chemistry veröffentlicht wurden.1) Hierfür heftete das Team kurze RNA-Stücke an die Oberfläche der Filamente, deren Sequenz komplementär zu DNA-Stücken auf der „Fracht“ waren, in diesem Fall kleine Vesikel. Über die Ausbildung von RNA-DNA Hybriden können die Vesikel an die Filamente binden. Die Zugabe des Enzyms RNaseH, das diese Bindung wieder aufspaltet sowie die beteiligte RNA abbaut, bewirkt, dass sich DNA-Stücke an anderer Stelle des Vesikels neue RNA-Partner suchen müssen, sodass eine gerichtete Rollbewegung entlang der Filamente entsteht. „Auch wenn wir im Moment die Startrichtung noch nicht bestimmen können und der Vorgang relativ langsam ist, sind diese Arbeiten sehr vielversprechend“, betont Liu. Göpfrich ergänzt: „Interessanterweise bewegt sich das Influenzavirus physikalisch gesehen auf ganz ähnliche Art und Weise. Wir haben jetzt also ein Modellsystem geschaffen, mit dem wir in Zukunft solche Transportmechanismen untersuchen können.“
Großes Potenzial der Blue-Sky-Science
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Forschung, die auf den ersten Blick keine klare Anwendung hat und vor allem von der Neugier der Forschenden getrieben wird (Blue-Sky-Science genannt), unerwartete, aber sehr nützliche Dinge hervorbringen kann. „Die Verfahren, die wir auf unserem Weg zu einer künstlichen Zelle entwickeln, sind häufig sehr anwendungsnah und können direkt mit Medizinern und Biologen für relevante Fragestellungen eingesetzt werden“, schildert Göpfrich begeistert. „Unsere Vision ist es, Leben zu schaffen, wie wir es nicht kennen. Dabei können wir aber auch viel - und häufig auf unerwartete Art und Weise – über existierende Lebensformen lernen.“ „Unser Ansatz eröffnet zudem die Möglichkeit, über die Funktionen natürlicher biologischer Systeme hinauszugehen“, hebt Liu hervor.