zum Inhalt springen
Nachhaltige Medizintechnik

Kunststoffe in der Medizintechnik neu denken

Ohne Medizinprodukte aus Kunststoff ist eine gute Gesundheitsversorgung nicht möglich. Der breite Einsatz des synthetischen Materials, wie etwa bei Einmalartikeln, erzeugt jedoch enorme Mengen an Müll, verbraucht viele Ressourcen und verursacht einen großen CO2-Fußabdruck. Um zukünftig umweltverträglichere Kunststoffprodukte generieren zu können, sind signifikante Änderungen der Prozesse erforderlich.

Kunststoffe begegnen uns überall. Sie sind leicht, gut formbar, kostengünstig sowie lange haltbar und tragen wesentlich dazu bei, unseren Lebensstandard zu sichern. Vor allem in der medizinischen Versorgung sind die Materialien unentbehrlich, denn aufgrund ihrer Beständigkeit gegenüber Wärme, Feuchtigkeit und Chemikalien lassen sich die Produkte gut sterilisieren und können vielseitig eingesetzt werden. Zudem besitzen Kunststoffe eine hohe Verträglichkeit und lösen – im Gegensatz zu Metallen und Naturprodukten – nur selten Allergien aus. Doch keine Vorteile ohne Nachteile. Die durch die Verwendung von Einmalprodukten gewonnene Sicherheit und Arbeitserleichterung geht mit enormen Mengen an Müll sowie hohem Ressourcenverbrauch einher und setzt große Mengen an CO2 frei.

„Medizintechnik ohne Kunststoffe funktioniert nicht“, stellt Dr. Julian Lotz fest, Co-Gründer und Geschäftsführer der BIOVOX GmbH aus Darmstadt. „Aber wir müssen die Produkte anders gestalten.“ Das im Jahr 2021 gegründete Unternehmen bietet deshalb nachhaltige Biokunststoffe für den Einsatz im medizinischen Bereich an.

DEHP und PTFE müssen ersetzt werden

Auf einem grünen Untergrund sind verschiedenste medizinische Gegenstände aus Kunststoff angeordnet wie beispielsweise Handschuhe, Tablettenblister, Behälter, Spritze und ein Blutdruckmessgerät.
Kunststoffe kommen in der Medizintechnik in verschiedenster Form zum Einsatz © R. Menßen-Franz

In der Medizintechnik werden vor allem Standardkunststoffe wie Polyethylen (PE), Polypropylen (PP), Polystyrol (PS), Polycarbonat (PC) oder Polyvinylchlorid (PVC) verarbeitet. Alle diese Polymere bestehen aus sehr langen Molekülketten mit sich wiederholenden Grundeinheiten (Monomeren). Sie sind biologisch unbedenklich; mit der Zeit hat sich allerdings herausgestellt, dass einige Additive, also Zusatzstoffe zur besseren Anpassung der Materialeigenschaften, eine gesundheitsschädigende Wirkung entfalten können. Hierzu zählt unter anderem der nicht fest gebundene Weichmacher Diethylhexylphthalat (DEHP), der PVC-Produkte geschmeidig macht und beispielsweise in Schläuchen oder Blutbeuteln enthalten ist. Vor allem die längerfristige Nutzung in der intensivmedizinischen Behandlung führt zu einer hohen Belastung der Betroffenen und kann toxische Effekte auf Hoden, Nieren oder Leber sowie die Fortpflanzungsfähigkeit haben.1),2) Die Umstellung der Produkte auf DEHP-freie Materialien bzw. Nutzung des ungiftigen und weniger flüchtigen Trioctyltrimellitat (TOTM) ist eine der Herausforderungen in der Medizintechnik.

Auch Per- und Polyfluoralkyl-Substanzen (PFAS), zu denen der in der Gesundheitsbranche weit verbreitete Hochleistungskunststoff Polytetrafluorethylen (PTFE) zählt, werden inzwischen als bedenklich eingestuft. PTFE ist wasser-, fett- und schmutzabweisend, besitzt eine hohe chemische Beständigkeit und thermische Stabilität sowie einen sehr geringen Reibungskoeffizienten. Aufgrund seiner Langlebigkeit und guten Biokompatibilität wird es bevorzugt in Implantaten und Prothesen eingesetzt oder es dient zur Beschichtung von medizinischen Instrumenten wie Endoskopen, um deren Gleitfähigkeit zu verbessern. Da aber PFAS inzwischen im Verdacht stehen, Krebserkrankungen, Unfruchtbarkeit sowie Schädigungen des Hormon- und Immunsystems auszulösen, ist ein EU-weites Verbot der Verbindungen geplant.

Lotz führt aus: „Es ist deshalb wichtig, die Spezifikation genau zu betrachten und die traditionell genutzten Materialien zu hinterfragen. Oft gibt es inzwischen andere Materialien, die für Mensch und Umwelt verträglicher und eventuell sogar kostengünstiger sind.“ „Und auch wenn derzeit verfügbare Werkstoffe keine Alternative bieten, heißt das nicht, dass Fluorpolymere unabdingbar sind“, ergänzt Dr. Jürgen Stebani, CEO der Polymaterials AG. Das Unternehmen aus Kaufbeuren entwickelt – auch unter Nutzung von Künstlicher Intelligenz – im Kundenauftrag neue Kunststoff-Zusammensetzungen („Compounds“) und neue Polymere und Biopolymere auf molekularer Basis. „Wir haben z.B. für die Automobilindustrie bereits fluorfreie Hochleistungskunststoffe für Brennstoffzellmembranen entwickelt und hergestellt, die sogar besser funktioniert haben als gängige PFAS-haltige Substanzen.“

Der Polymerchemiker weist darauf hin, dass sich die Rohstoffindustrie bereits aus der PFAS-Produktion zurückziehe und die Substanzen langfristig nicht mehr zur Verfügung stünden. Zudem bestehe durch die Rohstoffindustrie kaum Interesse an der Entwicklung von Alternativ-Werkstoffen, dies werde zukünftig Aufgabe der Hersteller sein. Da die Entwicklung mit hohen Kosten verbunden sei, empfiehlt der Experte, dass sich kleine Unternehmen für die Erforschung neuer Werkstoffe künftig zusammenschließen.

Schematische Verdeutlichung der Kreislaufwirtschaft. Links ist von oben nach unten der Weg der Rohstoffe über Monomere zu Produkten, deren Nutzung und Entsorgung dargestellt. Rechts sind in kreisförmigen Linien verschiedene Handlungsmöglichkeiten für Prod
Im derzeitigen linearen Wirtschaftssystem (grau) werden die erdölbasierten Kunststoffprodukte nach ihrer Nutzung unter Freisetzung von umweltschädlichem Kohlenstoffdioxid verbrannt. Ziel im Gesundheitswesen ist die Umstellung auf biologische Rohstoffe sowie das Etablieren einer Kreislaufwirtschaft (blau), in der die Produkte so oft wie möglich wiederbenutzt bzw. die zugrundeliegenden Materialien recycelt werden können. Erfolgt schlussendlich doch eine Verbrennung, wird nur so viel Kohlenstoffdioxid frei, wie vorher von den Pflanzen gebunden wurde. © BIOVOX GmbH

Nachhaltigkeit beginnt beim Design

Alle konventionellen Kunststoffe werden aus erdölbasierten Monomeren hergestellt und haben dementsprechend einen sehr hohen CO2-Fußabdruck, wenn sie nicht recycelt werden können. Dies ist in der Gesundheitsbranche leider häufig der Fall, denn nach Kontakt mit Blut oder Sekreten sieht die Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Abfall (LAGA) M18 eine Verbrennung der Abfälle vor.3) Zudem enthalten viele Medizinprodukte mehrere unterschiedliche Kunststoffarten, die oft nicht wieder voneinander getrennt werden können.

„Wir müssen umweltgerechter konstruieren“, fordert der Syensqo-Experte für Hochleistungs­kunststoffe Dr. Herwig Juster. „Mit verändertem Design lässt sich der Werkstoffeinsatz bei gleicher Funktion oft minimieren. Außerdem muss die Vielfalt reduziert und recyclefähiges Material eingesetzt werden.“ Der Betreiber des Blogs FindOutAboutPlastics.com ist überzeugt, dass es nur mithilfe von Kunststoffen möglich sein werde, die Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung4) zu erreichen, wie beispielsweise gute Gesundheitsversorgung und Zugang zu sauberem Trinkwasser. Denn synthetische Polymere besäßen eine hohe Designflexibilität und ihre Verarbeitung erfordere weniger Energie als Glas, Keramik oder Metall.

Ein weiterer Schritt zu mehr Nachhaltigkeit können sogenannte Take-back-Systeme sein, wie Sanofi derzeit mehrere für Einmal-Insulinpens etabliert, von denen das Unternehmen jährlich etwa 450 Millionen Stück produziert. Die gebrauchten Pens werden zurückgenommen und die enthaltenen Materialien (Glas, Metall, Gummi und Kunststoffe) getrennt und recycelt.

Biokunststoffe als Alternative

Um den CO2-Fußabdruck der Gesundheitsbranche deutlich zu verringern, ist eine Abkehr von erdölbasierten Polymeren hin zu biobasierten Kunststoffen unerlässlich. Letztere werden aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt; zumeist dienen natürliche Polymere wie Stärke oder Cellulose als Ausgangsmaterial. Mithilfe von Co-Monomeren oder Additiven lassen sich Materialien generieren, die ähnliche Eigenschaften wie konventionelle Kunststoffe besitzen. Bei der Verbrennung belasten biobasierte Produkte die Atmosphäre allerdings nicht mit zusätzlichem CO2, da nur so viel Kohlenstoffdioxid frei wird, wie vorher von den Pflanzen gebunden wurde.

Der Anteil biobasierter Strukturpolymere beträgt derzeit nur etwa 1 Prozent des weltweiten Kunststoffmarktes5) und die Rohstoffe sind bisher – auch aufgrund des geringen Produktionsvolumens – teurer. Durch geschicktes Design verbunden mit Materialreduktion und vereinfachten Prozessschritten ist es aber durchaus möglich, biobasierte Produkte zu ähnlichen Preisen wie bisher herzustellen.6) Dr. Hans von Pfuhlstein, Gründer der Strategieberatung The Strategists Network (TSN), erläutert: „Nachhaltigkeit bekommt eine immer größere Bedeutung und das Unternehmen, das als erstes Medizinprodukte aus Biokunststoff auf den Markt bringt, hat ein Alleinstellungsmerkmal und damit einen Wettbewerbsvorteil.“

Die Medizintechnik befindet sich im Umbruch

Egal welchen Schritt die Hersteller gehen, jede nachträgliche Produktänderung erfordert eine erneute Validierung und Zulassung. Aus diesem Grund ist es wichtig, bereits zu Beginn der Entwicklung den gesamten Lebenszyklus unter Umweltaspekten zu betrachten. Christian Pommereau, bei Sanofi verantwortlich für Eco-Design und Kreislaufwirtschaft, ist sich sicher: „Wir werden weiterhin Kunststoffe haben, aber bessere. Derzeit sind wir in einer Umbruchphase, die Prozesse werden komplizierter. Mehr Nachhaltigkeit erreichen wir nur durch gemeinsames Handeln von Rohstoffproduzenten, Medizintechnik-Herstellern, Anwendern und der Politik.“

Im Frühjahr 2023 haben sich deshalb die BIOPRO Baden-Württemberg, BIOVOX Connect und Bayern Innovativ zur Allianz für nachhaltige Medizintechnik zusammengeschlossen, um die Akteurinnen und Akteure zu vernetzen, den Austausch zu fördern sowie Kräfte zu bündeln und die Branche so auf die Zukunft vorzubereiten. Die angebotenen Veranstaltungen sind offen für alle Interessierten.

Literatur:

1) DEHP als Weichmacher in Medizinprodukten aus PVC: https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Medizinprodukte/DE/dehp_2016.html abgerufen am 5.7.2024

2) Belastung von Olivenölen mit Weichmachern - Phthalate (DEHP, DIDP; BBP) in nativen Olivenölen (Fachinformation): https://www.lgl.bayern.de/lebensmittel/warengruppen/wc_13_fette_oele/et_weichmacher_olivenoel.htm#dehp abgerufen am 5.7.2024

3) Vollzugshilfe zur Entsorgung von Abfällen aus Einrichtungen des Gesundheitsdienstes: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Krankenhaushygiene/Kommission/Downloads/LAGA-Rili.pdf?__blob=publicationFile abgerufen am 5.7.2024

4) 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung: https://unric.org/de/17ziele/ abgerufen am 5.7.2024

5) Biokunststoff-Markt - Überblick: https://biowerkstoffe.fnr.de/biokunststoffe/marktsituation abgerufen am 5.7.2024

6) Nachhaltigkeit in der Medizintechnik: eine besondere Herausforderung: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/nachhaltigkeit-der-medizintechnik-eine-besondere-herausforderung abgerufen am 5.7.2024

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/kunststoffe-der-medizintechnik-neu-denken