Neurowissenschaften
Mesh-Mikroelektrodenarrays: Forschung mit Hirnorganoiden auf neuem Niveau
Wie funktioniert das Gehirn? Hirnorganoide, die aus pluripotenten Stammzellen entstehen, gelten als wertvolle Modellsysteme, die Teilaspekte der neurologischen Funktionsweise abbilden können. Dr. Peter Jones vom Naturwissenschaftlichem und Medizinischem Institut der Uni Tübingen hat gemeinsam mit Dr. Thomas Rauen vom Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster die Forschung an Organoiden auf ein neues Niveau gehoben. Mit seinem neuartigen Mesh-Mikroelektrodenarray (Mesh-MEA) in Form eines Netzes werden Wachstum und elektrophysiologische Analysen des Gewebes deutlich erleichtert.
Das Verständnis für neuropsychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Alzheimer ist sehr lückenhaft und die Suche nach Therapien mühsam, da die Erforschung des menschlichen Gehirns nur begrenzt möglich ist. Klinische Studien liefern zwar Hirnströme, geben aber keine Auskunft über Stoffwechselprozesse. Stellvertretende Tierversuche sind oft ungenau, da Mensch und Tier sich doch in vielem unterscheiden. Alzheimer oder Parkinson lassen sich in Tieren ohnehin nur schwer modulieren, da sie in Mäusen natürlicherweise nicht vorkommen. Außerdem sollen Tierversuche in der Forschung sukzessive vermieden oder zumindest stark reduziert werden. Als Alternative liefern Hirnorganoide vielversprechende Perspektiven für die Wissenschaft und werden von der Max-Planck-Gesellschaft im Projekt „White paper – Tierversuche in der MPG“ stark gefördert.
Selbstorganisierende 3D-Gewebe
Ein Organoid ist ähnlich wie ein Organ und schließt die Lücke zwischen klassischen 2D-Zellkulturen und In-vivo-Wirbeltiermodellen. Im Vergleich zu Ersteren ist das Organoid physiologisch relevanter und gleichzeitig zugänglicher für Analysen als das Hirn der lebendigen Maus. Aus menschlichen Hautbiopsien werden Zellen in vitro zu pluripotenten Stammzellen entdifferenziert. Diese werden dann in einem Kulturmedium mit speziellen Wachstumsfaktoren versetzt, um sich ähnlich wie im Gehirn zu Nerven- oder Gliazellen entwickeln zu können. Dabei wird den Zellen überlassen, sich in der Petrischale zu formieren und auf eine selbstorganisierende Weise zu einem Gewebeaggregat mit typischer zellulärer Architektur so zu reifen, wie es im Körper auch passieren würde. Aus 2D-Zellkulturen wachsen selbstständig 3D-Kügelchen, die nicht größer als eine Erbse sind. Bestimmte funktionale Aspekte eines Organs können so tatsächlich imitiert werden. Befunde zeigen, dass in den Hirnorganoiden die Nervenzellen miteinander kommunizieren und Schaltkreise ausbilden. Sicher kann damit nicht das gesamte Gehirn in seiner Komplexität abgebildet werden, aber es lässt sich beobachten, welche Folgen manche Gendefekte oder Substanzen auf menschliches Hirngewebe haben. Dies ist besonders interessant, da die beteiligten Organoidzellen aus Biopsiematerial von Patientinnen und Patienten stammen und somit deren individuelles genetisches Repertoire widerspiegeln.
Elektrische Zellaktivität berührungslos messen
Eine Schwierigkeit ist, die elektrophysiologische Information kugelförmiger Organoide auf flacher Messtechnik auszulesen, da naturgemäß die Kugel nur wenige Kontaktpunkte zu den Mikroelektroden hat. Insofern sind bisherige planare Mikroelektrodenarrays (MEA), die eine Aktivität lediglich bis zu 100 Mikrometern erkennen, nur bedingt für ein bis drei Millimeter große Gebilde geeignet. „Wir haben hier nur eine Ableitung, wo die Zellen zufällig auf der Elektrode zu liegen kommen“, erklärt Dr. Peter Jones vom Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut der Uni Tübingen (NMI). Wollte man mehr über interne elektrische Aktivität der Nervenzellen im Organoid erfahren, musste man bisher mit Sonden in das Gewebe hineinstechen oder es aufschneiden. Durch die Gewebeschädigung war jedoch das Ergebnis zweifelhaft.
Ein weiteres Problem ist, dass Zellkulturen die Eigenschaft haben, auf dem Untergrund zu haften, auf dem sie wachsen und dann keine Dreidimensionalität ausbilden. Jones bekam vor ein paar Jahren die Anfrage vom Max-Planck-Institut (MPI) in Münster, für die Organoidforschung etwas Besseres zu entwickeln. Tatsächlich hatte der Ingenieur, der sich vor allem mit Mikro- und Nanosystemtechnik auskennt, eine Idee, die perfekt umsetzbar war. Sein Team erfand ein Mikroelektrodenkonstrukt aus Polyimid, das wie ein Spinnennetz frei im Raum hängt und 61 Elektroden birgt. Es erinnert an eine winzige Hängematte, die weit vom Boden der Petrischale entfernt ist. Der Clou: „Da das Organoid dynamisch ist, arrangiert es sich selbst und wächst quasi ungehindert durch die Hängematte hindurch und um sie herum“, sagt Jones. Das Mesh-Elektrodenarray (Mesh = Netz) ist also komplett ins Organoid eingebettet. So können Aktionspotenziale (als Zeichen für elektrophysiologische Aktivität) extrazellulär und berührungslos aufgezeichnet werden. Gleichzeitig kann an vielen Stellen im Innern eine langfristige Messung über ein Jahr stattfinden, solange das Organoid wächst. „Im Prinzip wird die Aktivität eines Querschnitts des Organoids abgeleitet, ohne in die Entwicklung einzugreifen“, sagt Jones. Neben dem Mehr an Informationen ist auch die Versorgung des Organoids einfacher, da Sauerstoff und Nährstoffe von allen Seiten zugeführt werden können. Die richtige Auswahl an Prozessen war laut Jones eine Herausforderung, da die Materialien biokompatibel und die ableitenden Elektroden des Mesh-MEA in Flüssigkeit elektrisch aktiv bleiben sollen.
Individuelle Organoide öffnen die Tür zu Personalisierter Medizin
Forschung am lebenden Gehirn ist weder möglich noch ethisch vertretbar. Überhaupt haben Forschende nur selten die Möglichkeit, Gehirngewebe zu analysieren. „Mit menschlichen Hirnorganoiden hat man nun die Chance, in vitro ohne ethische Probleme zu forschen“, sagt der Ingenieur. Sie erlauben tiefere Einblicke in frühe Gehirnentwicklung und die Entstehung neurologischer Erkrankungen. Man kann die Effekte von toxischen oder wachstumsfördernden Substanzen, Viren oder anderen Keimen auf Nervenzellen und deren Entwicklung untersuchen. Gemessen wird hier vor allem die Gesamtaktivität, bei der es nicht wichtig ist, welche Zelle wann aktiv ist. Setzt man beispielsweise als Kontrollsubstanzen Neurotoxine ein, so erhält man je nach Substanz eine Verstärkung oder eine Reduktion der Aktivität.
Bisher gab es in Zellkulturen keine physiologischen Mikroschaltkreise. Organoide könnten solche Schaltkreise aber zukünftig ausbilden. Dies könnte zu besseren Modellen führen, die Effekte wie Langzeitpotenzierung (LTP) für ein „Lern“- Modell darstellen könnten. Eine Testung von Medikamenten mit unterschiedlicher Dosierung in verschiedenen parallelen Ansätzen sowie die Verknüpfung verschiedener Organoide miteinander wäre ebenfalls denkbar. Eine besondere Herausforderung ist die Entwicklung von Modellen für neuropsychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Autismus, die mit Entwicklungsstörungen des Nervensystems korreliert werden. Diese sehr heterogenen Krankheitsbilder erfordern Personalisierte Ansätze. Mit patientenspezifischem Gewebe hergestellten Organoiden bekäme man individuelle Erkenntnisse über die Pathologie sowie die spezielle Wirkungsweise von Medikamenten.
Medizinischer Nutzen birgt großes Potenzial
Das winzige isolierte Hirnorganoid in der Petrischale ist natürlich nicht gleichzusetzen mit dem Gehirn, das im Körper integriert über Jahre gewachsen ist. Die Dichte und Komplexität des lebendigen Nervengewebes ist in vitro nicht erreichbar. Es ist zwar anfangs sehr ähnlich in der Mikrostruktur, aber je länger die Kultur wächst, desto weiter ist sie von dem entfernt, was in einem Gehirn passiert. Für weitere Spezialisierungen des Organs bräuchte es sensorischen Input der Sinnesorgane sowie Botenstoffe, die im Organoid fehlen. Spätere Prozesse, wie etwa neurodegenerative Erkrankungen, brauchen sehr lange und können derzeit nicht abgebildet werden. Insofern können Hirnorganoide helfen, Tierversuche in Arzneimittelstudien zu Wirksamkeit und Toxikologie zu reduzieren, werden sie aber vorerst nicht ersetzen.
Die Arbeitsgruppe von Jones forscht außerdem an der Entwicklung von Mikroimplantaten, wie etwa im Pankreas, um dessen Aktivität auszulesen und möglicherweise eine langzeitstabile Messung des Blutzuckerspiegels zu gewährleisten. Im Zukunftscluster nanodiag BW arbeiten Forschende an Festkörper-Nanoporen, die einzelne Biomoleküle wie Proteine oder DNA nachweisen und messen können.
Für Jones ist es wichtig, neurowissenschaftliche Forschung zu betreiben, da das Gehirn noch immer ziemlich unbekannt ist und es immer noch keine Therapien für manche Erkrankungen gibt. „Wenn wir irgendwann Fortschritte in Bezug auf neurodegenerative Erkrankungen machen wollen, dann brauchen wir dafür gute Werkzeuge“, so der Wissenschaftler.