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Mit HKK Bionics kann die Hand wieder greifen

Ein Spin-off der Ulmer Hochschule will Menschen, deren Hände unfall- oder krankheitsbedingt gelähmt sind, mit einem neuartigen orthopädischen Hilfsmittel einen Teil ihrer Greiffähigkeit zurückgeben. Den Prototypen dieser individualisierbaren Handorthese entwickeln Dominik Hepp und Tobias Knobloch zur Serienreife hin. Dieses Jahr wollen die beiden Ulmer Medizintechniker mit ihrer 2017 gegründeten HKK Bionics GmbH die finalen Tests starten, ehe das patentierte Medizinprodukt "exomotion® hand one" nach seiner Zulassung eine Versorgungslücke auf dem Markt schließen soll.

Intelligente Steuerung über Muskelsignale

Bisherige Ansätze, so die Gründer, beschränken sich auf eine kurzfristige Nutzung im Rahmen der Therapie und seien kaum alltagstauglich.

Entwickelt wurde das akkugetriebene Medizinprodukt für volljährige Personen mit distalen Lähmungen an der Hand, die von Schlaganfällen oder Nervenverletzungen herrühren. Für vollständig halbseitige Lähmungen eignet sich die Orthese nicht. Denn sie arbeitet mit Sensoren, die auf noch intakten Muskeln der entsprechenden Körperhälfte sitzen, zusammen mit intelligenter Software die Bewegungsabsicht des Trägers erkennen und mithilfe winziger Antriebe seine Hand verstärken. Die Mikroantriebe leiten gezielt Kraft in die Betätigungsmechaniken ein, welche die Finger öffnen, schließen und ihnen so die notwendige Griffkraft bereitstellen.

Die Handorthese besteht aus einer tragenden Armschiene, dem Antriebspaket, einer modular anpassbaren Finger-Exomechanik, einem Silikonhandschuh, einem Sensor und der Bedieneinheit. Damit lässt sich der Bewegungsumfang der Finger individuell steuern, das heißt, die Orthese kann anatomische Besonderheiten berücksichtigen, z. B. bei eingeschränkter Fingergelenksbeweglichkeit nach längerer Lähmung; auch unabhängig voneinander lassen sich einzelne oder mehrere Finger beugen und strecken.

Exomechanik statt Reizstrom

Anders als herkömmliche Modelle kommt die Orthese ohne Reizstromimpulse aus, was für eine nicht zwangsweise gefühllose, weil gelähmte Hand vorteilhaft ist. Die Ulmer Neuentwicklung arbeitet über ein exomechanisches Prinzip, bei dem die Finger in dem Handschuh mechanisch bewegt werden. Es ist also der Handschuh, der über der gelähmten Hand getragen und von Sensor und Steuerungslogik aktiviert wird.

Sechs verschiedene Griffarten kann die Handorthese durchführen, darunter die geschlossene Faust, der sogenannte Scheckkartengriff, bei dem sich nur der Daumen bewegt, oder der Dreifingergriff. Damit soll die gelähmte Hand wieder Aufgaben des alltäglichen Lebens durchführen können, sei es, eine Flasche zu halten, um sie mit der anderen Hand zu öffnen, oder das beidseitige Tragen eines Wäschekorbs ermöglichen. Das Touchdisplay mit der Steuereinheit, in der Energie und Logik der Orthese untergebracht sind, lässt sich an der Kleidung befestigen und zur besseren Bedienung aufklappen. Nach Gebrauch am Ende des Tages muss der Akku wieder aufgeladen werden.

Die Orthese unterscheidet zwischen einer kurzen und langen Muskelkontraktion. Damit lassen sich Steuerungsbefehle wie „Öffnen“, „Schließen“ oder „Griffwechsel“ erzeugen. Das erhöht den Bedienkomfort, weil sich damit ohne das Touchdisplay die Hand öffnen und schließen sowie zwischen zwei Griffen hin- und herspringen lässt. Die Steuerungstechnik ist den Funktionsweisen der Handprothetik entlehnt. Denn die Schnittstelle Mensch-Maschine erlaubt in technologischer Hinsicht noch keine Live-Simultanansteuerung aller Finger, erläutert Ingenieur Dominik Hepp.

Handwerkskunst und industrielle Fertigung

Die spezielle Exomechanik und die tragende Armschiene, wie sie in der Ulmer Handorthese eingesetzt werden, sind nur mit 3D-Scan und 3D-Druck machbar. Das hat den Vorteil, dass sich die Reproduzierbarkeit und Genauigkeit industrieller Fertigungsmethoden mit der traditionellen Handwerkskunst der Orthopädietechnik vereinen lässt.

Ein individualisiertes medizinisches Hilfsmittel wie die bionische Handorthese wird modulartig zusammengebaut. In Sanitätshäusern mit angeschlossenen orthopädietechnischen Werkstätten erstellt der Orthopädietechniker nach einem Gipsabdruck (von Hand und Unterarm) den Handschuh, der mit unterschiedlich vielen dieser biokompatiblen Exomechanik-Teile versehen wird. Anschließend wird ein 3D-Scan erstellt, auf dessen Datengrundlage die Schiene bei einem professionellen 3D- Dienstleister gedruckt wird. Zusammengebaut wird die Handorthese in den Sanitätshäusern, die über die technische Expertise verfügen.

Vertrieben werden soll das Medizinprodukt zunächst in der DACH-Region über ausgewählte Sanitätshäuser. Ein tragfähiges und engmaschiges Netzwerk mit Ärzten, Therapeuten, Sanitätshäusern und Patienten wurde inzwischen geknüpft. Im Laufe des Jahres sollen die Gebrauchstauglichkeit und Funktionsfähigkeit des Medizinproduktes in Zusammenarbeit mit den Patienten nachgewiesen werden. Ärzte und Kliniken haben bereits Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Ulmern signalisiert.

Ein Hilfsmittel für den Alltag

Die Handorthese soll dem Menschen mit seiner Einschränkung helfen, sich im besten Fall wieder in das Alltags- und Berufsleben einzugliedern. Das setzt voraus, dass die Handorthese als Alltagshilfsmittel den ganzen Tag getragen wird. Das nachzuweisen, ist für die Kostenerstattung der Versicherer wichtig, wissen die Jungunternehmer.

Die Anfänge des Unternehmens reichen bis ins Jahr 2011 zurück. Da verfolgt der Student Dominik Hepp im Rahmen eines Bachelor-Projektes an der Hochschule Ulm die Idee einer Handprothese. Das Projekt wird größer, wirft Stoff für weitere Abschlussarbeiten ab, auch für Tobias Knobloch. Die Gründungswilligen haben inzwischen für Handorthesen einen besseren, weil relativ freien Markt entdeckt. Nach Studium und mithilfe eines EXIST-Gründerstipendiums ab 2015 wird die Prothesen- zur Orthesentechnologie transferiert, der Prototyp gebaut, der Geschäftsplan entwickelt und dessen Funktionstauglichkeit nachgewiesen.

Inzwischen tritt das junge, um eine betriebswirtschaftliche Fachkraft angewachsene Unternehmen, das von mehreren Beteiligungsgesellschaften getragen wird, vermehrt an die Öffentlichkeit und hat dort gleich reüssiert. Zuletzt 2018 beim renommierten Technologieverband VDE, wo HKK Bionics als eines von zwei innovativen Gründerteams für eine elektrische und digitale Zukunft ausgezeichnet wurde. Die Ulmer Sieger freuen sich jetzt auf eine einwöchige Reise ins Technologie-Mekka Silicon Valley. Anregungen für erfolgreiche Geschäftsmodelle werden die Jungunternehmer von dort sicherlich mit in die Münsterstadt mitbringen.

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