Zum Supermarkt gehen, die Regale gemäß Einkaufsliste abklappern, auf dem Rückweg schnell zum Bäcker, zu Hause gemütlich einen Kaffee trinken. Was sich nach Alltagsaktionen anhört, ist für viele eine riesige Herausforderung oder eine sogar unlösbare Aufgabe: Allein in Deutschland leiden jedes Jahr mehr als 7 Millionen Menschen an Erkrankungen, die zu kognitiven Störungen führen können – unabhängig vom Alter. Die Ursachen reichen dabei von Unfällen, Schlaganfällen, Hirn-Operationen bis hin zu Epilepsie, Demenz und angeborenen Hirnerkrankungen.
All dies kann zu kognitiven Problemen führen, also Schwierigkeiten zum Beispiel mit dem Gedächtnis, der Konzentration oder der Aufmerksamkeit. Um diese kognitiven Fähigkeiten wiederzuerlangen, muss das Gehirn entsprechend trainiert werden.
Genau hier setzen Julian Specht und Barbara Stegmann an: Die beiden Psychologen haben 2017 in Heidelberg das Start-up living brain gegründet. Sie wollen die Rehabilitation nachhaltig verändern und neurologisch Erkrankten mit kognitiven Störungen eine neue Therapieform bieten. „Die verbreitete Rehabilitationstherapie besteht meist noch immer aus Übungen mit Stift und Papier oder Computerprogrammen, häufig mit wenig Erfolg. Wer schwimmen lernen will, liest dazu ja auch kein Buch“, erklärt Stegmann. Der Ansatz der beiden Gründer? Mit einer speziell entwickelten Software möchten sie Betroffenen eine alltagsnahe und spielerische Trainingsmöglichkeit bieten und so die Rehabilitation fundamental verändern.
Der Startpunkt von living brain
Der Hauptantrieb der beiden Gründer, die sich im Psychologie-Studium kennengelernt haben, geht auf eigene Erfahrungen zurück. Julian Specht litt, seit er zehn Jahre alt war, an Epilepsie. Mit 20 Jahren entschloss er sich zu einer Hirn-Operation – mit einem hohen Risiko für kognitive Einschränkungen. Die Auskünfte der Ärzte auf seine Frage nach Rehabilitationsmöglichkeiten waren ernüchternd. „Mittel der Wahl sind noch immer Stift und Papier, um Zahlenreihen und Begriffe auswendig zu lernen.“ Specht erklärt den Knackpunkt: „Selbst, wenn man solche Aufgaben mit der Zeit besser lösen kann, lässt sich das Gelernte nicht auf andere Aufgaben im Alltag transferieren. Durch das Üben von Zahlenreihen fällt es dem Patienten nicht leichter, wieder Kaffee zu kochen oder einkaufen zu gehen. Von beruflichen Aufgaben ganz zu schweigen.“ Viele Patienten wären folglich unmotiviert und hätten das Gefühl, den Problemen hilflos entgegenzustehen.
Julian Specht aber hatte Glück: Er ist nach dem Eingriff anfallsfrei und hat keinerlei neurologische Ausfälle. Dieses Glück haben jedoch nicht alle. Für ihn und Barbara Stegmann war klar: Es braucht eine Lösung für Betroffene. Der Startpunkt zu living brain war gesetzt.
Supermarkt im Wohnzimmer – Reha im entscheidenden Zeitfenster
Die beiden Wissenschaftler haben ein Konzept entwickelt, das sie kontinuierlich ausbauen und anpassen. „Kognitive Fähigkeiten sind komplex: Es geht um Konzentration, Aufmerksamkeit, Sprache, Erkennen und Einordnen von Dingen, Personen und Situationen“, erklärt Specht die Notwendigkeit einer völlig anderen Therapieform. „Um im Alltag wieder zurechtzukommen, sollte auch der Alltag trainiert werden. Ein Training in der Realität aber ist risikobehaftet, wenn Patienten Bewegungen und Situationen noch nicht richtig kontrollieren können.“ So entstand die Idee zur Nutzung von Virtual Reality (VR). „Unser Ziel ist, eine möglichst realitätsnahe Umgebung zu schaffen.“ Mit Till Ikemann haben die beiden Gründer einen erfahrenen Software-Entwickler ins Team geholt. „Wir haben eine Software entwickelt, die es Menschen ermöglicht, mit einer Kombination aus virtueller Realität und psychologischen Lernstrategien Alltagstätigkeiten spielerisch zu erlernen.“ Mit der VR-Brille können sich die Patienten in einem virtuellen Raum, zum Beispiel einer Küche, verletzungsfrei bewegen und Aufgaben trainieren, etwa Kaffee zu kochen und den heißen Kaffee in eine Tasse zu überführen – ohne Gefahr, sich zu verbrühen.
„Die Anwendung besteht im Gesamtpaket aus der VR-Brille und einem Tablet, welches den Therapeuten live zusehen lässt. Kliniken können dies bereits erhalten“, erklärt Stegmann. Da die Nutzung der VR-Brille unabhängig von Therapieterminen und -räumen, starrem Equipment oder Computern erfolgt, kann ein Training unkompliziert gestartet werden. So könnten Patienten zukünftig schon in der Wartezeit auf eine Rehabilitation anfangen zu trainieren. Es soll dabei kein Therapeut ersetzt, sondern eine Versorgungslücke geschlossen und ein realistisches Training verfügbar gemacht werden. Es geht um Schnelligkeit – der springende Punkt, wie Stegmann erläutert: „Das große Problem ist, dass mit der Therapie meist zu spät begonnen wird. Nach Hirnverletzungen gibt es ein kritisches Fenster von ca. sechs bis neun Monaten, in dem die neuronale Plastizität in höherem Maß aktiv ist.“1-7 Der Grund? Das Gehirn versucht, den verletzten oder ausgefallenen Funktionsbereich zu heilen oder auszugleichen. Wird bereits in diesem Zeitraum mit der Reha begonnen, kann in diesem Prozess häufig sehr viel mehr erreicht werden, als wenn die Rehabilitation erst später beginnt. Das volle Verbesserungspotenzial kann sich so viel eher entfalten. Für die bestmöglichen Ergebnisse muss das Gehirn deshalb direkt nach einem Unfall bzw. einer Operation trainiert werden. Das intensive Training, bei dem eine Vielzahl an Reizen über mehrere Sinneskanäle gleichzeitig mit kognitiven und motorischen Prozessen durch die virtuelle Realität verknüpft werden, wirkt sich dabei positiv aus.8 „Wissenschaftliche Publikationen belegen, dass VR die neuronale Plastizität in einem besonders hohen Maß anregen kann“, erklärt Stegmann das Potenzial.9
Mehrwert einer medizinischen Versorgung – der entscheidende Sprung
Mittlerweile ist die Software von living brain ein evidenzbasiertes Medizinprodukt, das wirkliche Hilfe für Betroffene bieten soll. „Nichts ist frustrierender als veraltete Methoden oder Heilsversprechen, die nicht funktionieren. Unserer Erfahrung nach sind Qualität und wissenschaftliches Arbeiten wesentliche Aspekte, um ein Produkt zu entwickeln, das Betroffenen nachhaltig hilft“, erklärt Stegmann die Entscheidung, den wissenschaftlichen Weg zu gehen. „Insbesondere alle Zertifizierungen zu erhalten und Klinische Studien zu finanzieren, kann herausfordernd sein. Dennoch sind gerade diese Aspekte wichtig, um die Qualität und die Wissenschaftlichkeit des Produkts sicherzustellen, die aus unserer Sicht elementar sind.“ Das Start-up hat dazu Kooperationen mit Ärzten, Psychologen, weiteren Wissenschaftlern und unter anderem der Asklepios Neurologische Klinik Falkenstein geschlossen. In einer ersten Studie testete living brain bereits die User Experience und die Usability bei Betroffenen, also die subjektiven Empfindungen und den Anwendungsprozess bzw. die Benutzerfreundlichkeit. „Das erste Feedback von Patienten ist durchweg positiv“, erklärt Specht. „Rückmeldungen sind für uns das Wichtigste, um das Produkt weiter zu verbessern und seinen Nutzen zu optimieren.“
Beide Gründer freuen sich über die wachsende Akzeptanz gegenüber neuen Ansätzen und Technologien im Gesundheitswesen. „Wir sehen die Verwendung neuer Technologien als Chance, bestehende Methoden weiter zu verbessern, sie für mehr Menschen verfügbar zu machen und so Versorgungslücken zu schließen. Unser Ziel ist, Patienten wirklich dort zu helfen, wo sie es benötigen“, erklärt Specht. Wenn der Patient im kritischen Zeitfenster Therapiemöglichkeiten erhält, kann ein echter Mehrwert in der medizinischen Versorgung erzielt werden. Die Bedeutung einer funktionalen, alltagsbasierten Rehabilitation dürfte dabei insbesondere für jeden Betroffenen immens sein.