Begegnen wir einem Krankheitserreger (Pathogen), erkennt unser Immunsystem diesen als fremd und versucht, ihn zu eliminieren. Zuerst reagiert unser angeborenes Immunsystem, das den Eindringling schnell anhand allgemeiner Strukturen identifizieren und vernichten kann. Etwas zeitversetzt starten die Abwehrzellen der erworbenen Immunantwort. Zu ihnen zählen die B-Lymphozyten, die eine Vielzahl an unterschiedlichen Antikörpern produzieren und damit eine maßgeschneiderte Immunität erzeugen.
Antikörpermoleküle (Immunglobuline) setzen sich aus zwei identischen langen (schweren) und zwei identischen kurzen (leichten) Proteinketten zusammen, die gemeinsam eine ypsilonförmige Struktur bilden. Die schweren Ketten bestehen aus jeweils vier kompakt gefalteten Bereichen (Domänen), die leichten Ketten hingegen nur aus zwei. An einem Ende jeder Kette befindet sich eine sogenannte variable Domäne mit einzigartigen Eigenschaften, die spezifisch für den jeweiligen Antikörper sind. Die variable Domäne einer schweren und einer leichten Kette bilden gemeinsam die spezifische Erkennungsstelle eines Antikörpers. Mit ihr lagert er sich an eine passende Struktur (Antigen) auf dem Erreger an. Ein Antigen kann dabei von unterschiedlichen Antikörpern gebunden werden, die verschiedene Bereiche (Epitope) innerhalb des Antigens erkennen.
Die restlichen Domänen eines Antikörpers sind konstant und innerhalb einer Antikörperklasse identisch. Immunglobuline der Klasse M (IgM) beispielsweise werden während der akuten Infektionsphase gebildet. IgGs entstehen erst zu einem späteren Zeitpunkt oder nach einer Impfung und sind Teil des immunologischen Gedächtnisses. Nach Bindung eines Antigens werden über den konstanten Teil andere Komponenten des Immunsystems aktiviert, sodass der Erreger vernichtet werden kann.
Antikörper verschiedener Klassen werden von allen höheren Wirbeltieren gebildet und befinden sich im Blut (IgG), der Gewebeflüssigkeit und den Körpersekreten (IgA). Interessanterweise besitzen Mitglieder der Familie der Kameliden (z. B. Kamel, Alpaka, Lama, Dromedar) zusätzlich eine weitere Form von Immunglobulinen, sogenannte „heavy chain only“ Antikörper. Diese bestehen ausschließlich aus zwei identischen schweren Ketten, die komplette Antigenbindestelle wird hier also nur von einer einzigen variablen Domäne gebildet. Diese Besonderheit wurde erstmals 1993 beschrieben und wird seitdem zunehmend in der Forschung und auch Therapie genutzt.
Nach Immunisierung eines Tieres können aus dessen Blut B-Lymphozyten isoliert und anschließend Gen-Bibliotheken erstellt werden, die nur die Informationen für die Produktion der variablen Domänen der „heavy chain only“ Antikörper enthalten. Diese Einzeldomänen-Antikörperfragmente, sogenannte Nanobodies, besitzen sehr gute Antigenbindeeigenschaften und bieten gegenüber konventionellen Antikörpern einige Vorteile. Nanobodies sind deutlich kleiner und stabiler und lassen sich einfach und kostengünstig herstellen. Gleichzeitig eröffnen sie neue Möglichkeiten in der biomedizinischen Forschung.
Bringt man beispielsweise die genetische Information für einen Nanobody verbunden mit einem fluoreszierenden Protein in Säugerzellen ein, bilden diese einen sogenannten Chromobody, der gezielt an einzelne Strukturen in lebenden Zellen bindet und diese sichtbar macht. So können Veränderungen in der Zelle verfolgt und zum Beispiel Wirkungen von Arzneistoffen in Echtzeit untersucht werden.
Ein Pionier im Bereich Forschung und Anwendung von Nanobodies ist Prof. Dr. Ulrich Rothbauer, der seit 2003 auf diesem Gebiet arbeitet und seit 2011 eine Gruppe am NMI Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut in Reutlingen leitet. Im Sommer 2020 gelang es seinen Mitarbeitern, Nanobodies zu isolieren, die SARS-CoV-2 erkennen. Sie sind gegen die Rezeptorbindedomäne (RBD) des Spike-Proteins auf der Oberfläche des Virus gerichtet, mit der dieses an menschliche Zellen andockt und schließlich in sie eindringt. „Wir sind auf ungewöhnlich viele Kandidaten gestoßen, die mit einer hohen Affinität binden. […] Die RBD ist ein sehr dankbares Antigen; das Alpaka entwickelt nach der Immunisierung sehr viele Antikörper“, erklärt der Forscher. Dies gilt erfreulicherweise ebenso für Menschen nach einer Impfung.
Einige der gefundenen Nanobodies binden direkt an die Stelle, mit der die RBD an ACE2 (Angiotensin-Converting Enzyme 2), die Eintrittspforte auf menschlichen Körperzellen, andockt und können diese Interaktion blockieren. Andere erkennen ein Epitop außerhalb dieses Bereichs. In Rothbauers Gruppe wurde nun ein biparatopischer Nanobody (bipNb) hergestellt, der zwei unterschiedliche Epitope innerhalb der RBD bindet und dadurch in vitro eine hohe neutralisierende Wirksamkeit besitzt.
Ob der bipNb wirklich eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus verhindern kann, wurde im Labor von Prof. Dr. Michael Schindler, Leiter der Forschungssektion Molekulare Virologie des Instituts für Medizinische Virologie und Epidemiologie der Viruskrankheiten am Universitätsklinikum Tübingen, an lebenden Zellen untersucht. Schindler betreibt eines der wenigen biologischen Labore der Sicherheitsstufe 3 in Baden-Württemberg, in dem mit hochinfektiösen Erregern wie SARS-CoV-2, Dengue, HIV oder Hepatitis C gearbeitet werden kann. „Wir sind im Umkreis von 100 km der Ansprechpartner für die Industrie, jede Klinik und jedes Diagnostiklabor. Es ist unglaublich, was innerhalb des letzten Jahres über uns hereingebrochen ist“, beschreibt der Wissenschaftler die aktuelle Situation.
Nachdem Schindlers Gruppe die Wirksamkeit der bipNbs im realen Infektionssystem bestätigen konnte, entwickelte das Team von Rothbauer einen kompetitiven Bindungstest, den NeutrobodyPlex. Mit diesem kann aus dem Blutserum infizierter oder geimpfter Personen nicht nur wie üblich die Gesamtheit an Antikörpern gegen die RBD des Coronavirus erfasst werden, sondern konkret die Menge an neutralisierenden Antikörpern, die eine Infektion verhindern. Die Nanobodies werden hierbei genutzt, um spezifisch nur diejenigen Antikörper zu verdrängen, die die Interaktion zwischen RBD und ACE2 blockieren. Bisher war die Bestimmung neutralisierender Antikörper nur mit enormem Aufwand im S3-Labor möglich. Der „Proof of Concept“, also die wichtige Bestätigung, dass die in vitro gewonnenen Daten den Ergebnissen aus einem Lebendzellsystem entsprechen, wurde ebenfalls von Schindler erbracht, der noch an einer Vielzahl ähnlicher Studien beteiligt ist. Mit dem NeutrobodyPlex kann nun die Quantität und Qualität einer neutralisierenden Antikörperantwort gegen die RBD einfach und sicher überprüft werden. Dies liefert wichtige Informationen für die Beurteilung und Entwicklung von Impfstrategien.
Für den NeutrobodyPlex, der maßgeblich durch die finanzielle Unterstützung des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg entwickelt werden konnte, hat das NMI bereits ein Patent angemeldet. Außerdem wurde das Testsystem dem Tübinger Zentrum für Klinische Transfusionsmedizin zur Verfügung gestellt, um z. B. Seren von Mitarbeitern und Patienten auf neutralisierende Antikörper zu untersuchen. Der NeutrobodyPlex ist somit ein Paradebeispiel für anwendungsorientierte Forschung.