RNA-Interferenz gegen Krebs
Neuentdeckte RNA als Wachstumstreiber in Leberkrebs
Nutzlos scheinen sie nun doch nicht zu sein, wie lange angenommen wurde: Nichtcodierende RNA-Stücke (ncRNAs), die keinen Bauplan für Proteine enthalten, haben viele verschiedene Aufgaben; und einige von ihnen werden mit bestimmten Krankheiten in Zusammenhang gebracht. Prof. Dr. Sven Diederichs vom Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung sowie dem Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg forscht auch am Uniklinikum Freiburg an diesen Molekülen und entdeckte eine ncRNA, die die Zellvermehrung in Krebszellen reguliert.
Ursprünglich wurden sie als die kleinen Helfer der DNA angesehen, die lediglich Information aus dem Zellkern schaffen und als Baupläne für Proteine dienen. Inzwischen weiß man, dass RNA-Moleküle darüber hinaus noch viele weitere Funktionen besitzen. Insgesamt Dreiviertel des menschlichen Genoms wird transkribiert, das heißt, in RNA-Kopien abgeschrieben. Davon braucht der Körper aber nur zwei Prozent, um alle nötigen Eiweißbaupläne abzudecken. Ein Großteil der menschlichen Erbinformation enthält demnach Information für nichtcodierende Transkripte statt für proteincodierende Vorlagen. Dabei ist die Gruppe der nichtcodierenden RNAs eine sehr diverse Sammlung. „Alle RNAs, die keinen Bauplan für Eiweiße und keine Funktion in der Proteinsynthese haben, werden erst mal grob zu ncRNAs zusammengefasst“, weiß Prof. Dr. Sven Diederichs. Er forscht neben der Uniklinik Freiburg auch am Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK) und dem Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg (DKFZ) nach einem Zusammenhang zwischen den ncRNAs und der Tumorbildung bei Krebs.
Wichtige Akteure physiologischer und regulatorischer Prozesse
RNA-Schnipsel bis zu 200 Nukleotiden nennt man kurze ncRNAs wie microRNAs oder piRNAs, die bekannterweise wichtige Rollen bei der Genregulation spielen. Alle, die länger sind und nicht für Proteine codieren, werden zu den langen nichtcodierenden RNAs (lncRNAs) zusammengefasst. Ihre Funktion ist noch weitgehend unbekannt; klar ist nur, dass sie im Gegensatz zu den microRNAs eine sehr heterogene Gruppe sind. Mehr als 10.000 lncRNAs sind in den letzten Jahren beschrieben worden, und ihre Zahl steigt noch. LncRNAs treten in Interaktion mit DNA, RNA, Proteinen sowie einer Kombination dieser Moleküle und scheinen bisherige Mechanismen der Genregulation zu ergänzen. Auffällig ist, dass bestimmte lncRNAs bei vielen Krankheiten in den Zellen der betroffenen Gewebe viel häufiger vorkommen als in gesunden Zellen. Dies legt nahe, dass sie in die molekulare Pathogenese von klinischen Phänotypen involviert sein könnten.
Diederichs erster Kontakt zu lncRNAs ergab sich während seiner Doktorarbeit über das Adenokarzinom der Lunge, bei der er nach Markern suchte, die mit dem Krebs assoziiert sein könnten. Er fand ein langes Transkript ohne offenen Leserahmen (MALAT1) und brachte in seiner Publikation als einer der ersten lncRNAs mit Krebs in Verbindung. „Das war zu einer Zeit, zu der nicht viel bekannt war und es noch nicht allgemein akzeptiert war, dass lncRNAs funktionell eine Rolle spielen“, sagt er. „Heute wird diese Gruppe intensiv beforscht.“ So ist inzwischen bekannt, dass viele ncRNAs auch in zelluläre Prozesse eingreifen, die die Vermehrung, Lebens- oder die Migrationsfähigkeit beeinflussen. Sie verhindern den programmierten Zelltod (Apoptose) oder fördern die Neubildung von Blutgefäßen und agieren so als Treiber der Karzinogenese, indem sie eins oder mehrere Kennzeichen von Krebs regulieren.
LincNMR hilft der Krebszelle bei schnellem Wachstum
Inzwischen gibt es viele ncRNA-Schwerpunktprogramme weltweit, um verschiedene Krankheiten zu untersuchen, darunter auch Krebs. Die Forscher um Diederichs interessieren sich allgemein dafür, was lncRNAs in der Zelle tun, was Eiweiße nicht können und insbesondere, welche Faktoren Leberkrebstumoren beim Wachsen helfen.
In 200 Patientenproben mit Lebertumoren suchten sie gezielt nach lncRNAs, die in Krebszellen überrepräsentiert waren und eine mögliche Bedeutung für den Tumor haben könnten. Das Team fand eine bisher unbekannte lncRNA, die in den Leberkrebszellen, aber auch in Lungen- und Brustkrebstumoren deutlich häufiger war als in gesunden Geweben. In Experimenten in Zellkulturen und an Tumoren auf Chorion-Allantois-Membranen (CAM) im bebrüteten Hühnerei konnte Diederichs´ Team spezifisch das fragliche Molekül mittels RNA-Interferenz ausschalten. Das Ergebnis: Die Krebszellen teilten sich weniger und wuchsen zu kleineren Tumoren heran. Die neu entdeckte RNA wurde lincNMR (long intergenic non-coding RNA-Nucleotide Metabolism Regulator) genannt, da hier offenbar ein ganzer Signalweg betroffen war, der den Zellen bei Wachstum und Vermehrung hilft, und der sonst zur Tumorbildung beiträgt. In Krebszellen von soliden Tumoren ist lincNMR oft überrepräsentiert. „Der Phänotyp ist nicht nur für Leberkrebs typisch“, erklärt Diederichs. „Wir konnten in sechs Tumorentitäten immer den gleichen Effekt der Hochregulation von lincNMR zeigen.“ Intensive molekulare Analysen haben enthüllt, dass lincNMR eine wesentliche Rolle beim Zusammenbau der neuen DNA spielt, wenn die Zelle im Begriff ist, sich zu teilen. Wird die lincNMR stillgelegt, können die Nukleotide als wichtige Bausteine nicht mehr hergestellt werden. „Die Zelle kann sich dann nicht mehr wie gewohnt teilen und steigt dann durch Zellalterung oder -tod dauerhaft aus dem Zellzyklus aus“, so der Forscher.
LincNMR spielt also offensichtlich eine Rolle im Nukleotidstoffwechsel der Zelle, und das Krebswachstum ist offenbar davon abhängig, dass stets genug des Moleküls vorhanden ist. Nur dann bildet die Zelle schnell genügend Nukleotide, die sie für ihre DNA-Synthese und ihre schnelle Vermehrung braucht.
Therapieansatz durch LincNMR-Inhibition?
Diederichs konnte zeigen, dass durch RNA-Interferenz lincNMR stillgelegt werden kann und beobachtete ein rascheres Altern der Zellen (Induktion der Seneszenz). Die Zellen teilten sich nicht mehr und bildeten auch keine Ansammlungen mehr, wie sie für Tumoren typisch sind. Größe und Gewicht von Tumoren, deren lincNMR ausgeschaltet wurde, waren signifikant reduziert. „Die entscheidende Frage ist: Reicht das aus, um einen vorhandenen Tumor auch schrumpfen zu lassen, oder würde es dazu führen, dass er nur nicht weiterwächst?“, fragt Diederichs, wobei er hinzufügt, dass Letzteres natürlich auch schon ein klinischer Gewinn wäre.
Leberkrebs ist die vierthäufigste Todesursache aller krebsbedingten Ursachen weltweit. Das Hepatozelluläre Karzinom (HCC) macht über 75 Prozent der Leberkrebserkrankungen aus und spricht im fortgeschrittenen Stadium nur sehr schlecht auf Behandlungen an. LincNMR ist in Zellen des HCC sechsmal häufiger als in gesunden Leberzellen und vermutlich ein Mechanismus, der die Karzinogenese antreibt. Dies könnte eventuell ein Ansatzpunkt für mögliche Therapien sein. Laut Diederichs steht das Team noch ganz am Anfang der Entwicklung eines möglichen Inhibitors. Vorher müssen noch viele offene Fragen beantwortet werden. Über potenzielle Nebenwirkungen ist beispielsweise noch gar nichts bekannt. Auch muss überlegt werden, wie der mögliche Blocker exakt zu dem Ziel gelangt, wo er gebraucht wird. „Eine Krebszelle zu töten, ist ja nur sinnvoll, wenn ich die normalen Zellen schonen kann“, sagt Diederichs. Dass in Krebszellen die lincNMR-Konzentration deutlich höher ist, könnte aber schon ein Vorteil sein. Krebszellen könnten auch in vivo sensibler darauf reagieren, wenn man die RNA ausschaltet und mit einem Teilungs-Stopp reagieren. Dennoch ist das Ziel eine Regression des Tumors. „Meine zukünftige Vision wäre eine clevere Kombination von Medikamenten: einerseits lincNMR zu inhibieren, und dies mit einem Wirkstoff zu kombinieren, der die Zelle in Apoptose bringt, sodass der Tumor abstirbt“, meint Diederichs.