Biotech im Weltall
Raumfahrt-Start-up yuri: Schwerelosigkeit für die kommerzielle Forschung
Zellen ohne Einwirkung der Schwerkraft zu züchten, könnte die Medikamentenentwicklung revolutionieren. Das Start-up yuri am Bodensee ermöglicht passgenaue Experimente auf der ISS – ob mit Stammzellen, künstlichen Organen, Oberflächen oder Materialien. Aktuell dabei: Mini-Zelllabore der Berliner Charité und der Goethe-Universität Frankfurt.
Zehn Kubikzentimeter große Boxen, gefüllt mit menschlichen Zellen in einer Nährstofflösung – in 400 km Höhe: Die Mini-Labore des Meckenbeurer Start-ups yuri werden auf der Internationalen Raumstation installiert. Sie bergen Geheimnisse, die man am liebsten sofort entlarven möchte. Ein wenig Geduld braucht es noch: Wenn die Experimente im August den Erdboden verlassen, werden sie vollautomatisch im All versorgt – um nach sechsmonatiger Mission in den Forschungsinstituten analysiert zu werden. Für Mikrogravitationsexperimente ungewöhnlich schnell. Und damit ist nicht die Geschwindigkeit von 28.000 km/h gemeint, mit der die ISS die Erde umkreist.
Einmal Weltall und zurück – Charité und Goethe-Universität in der Box
„Experimente in Schwerelosigkeit können neue Erkenntnisse für die Medizin, Biowissenschaften und Physik liefern“, erklärt Mark Kugel. „Bislang waren Experimente auf der ISS jedoch schwierig, teuer und sehr zeitaufwendig.“ Kugel ist einer der vier Gründer von yuri, zusammen mit der Weltraum-Ingenieurin Maria Birlem und den Ingenieuren Christian Bruderrek und Philipp Schulien – alle mit Airbus- und NASA-Erfahrung. „Bisher war der Markt nur für Raumfahrtunternehmen offen“, so Chief Commercial Officer Kugel weiter. „Mit yuri ermöglichen wir nun jeglichen Forschungseinrichtungen Projekte auf der ISS.“
Durch Bündelung mehrere Experimente in einer Mission, Expertise zu spezieller Hardware und auf sechs Monate reduzierte Zeit kann yuri die Kosten erheblich senken: Unter 100.000 Euro statt bisher 1 Mio. Euro soll eine ISS-Forschungsmission kosten – Downscaling für Experimente upstairs. Der Weltraum-Dienstleister agiert dabei als One-Stop-Shop und kümmert sich um die Vorbereitung der modularen Experimentierbox, das Management aller Formalitäten und Personen bis hin zu Flug und Expedition. Steil bergauf geht es vor allem im Biotechbereich: Um naturwissenschaftliche Erkenntnisse unter Schwerelosigkeit zu gewinnen, nutzen aktuell die Berliner Charité und die Goethe-Universität Frankfurt das kommerzielle Angebot von yuri. Beide Projekte sind bei der NASA1) gelistet.
Immunsystem und künstliche Organe unter Schwerelosigkeit
Das Projekt SHAPE1) (Spheroid Aggregation and Viability in Space) unter wissenschaftlicher Leitung von Dr. Francesco Pampaloni der Goethe-Universität hat zum Ziel, ein besseres Verständnis zu erhalten, wie Mikrogravitation das menschliche Immunsystem auf zellulärer Ebene beeinflusst. Der Gedanke dahinter? Die Erkenntnisse könnten für zukünftige Langzeitaufenthalte im Weltraum bedeutsam sein. Denn unter nahezu fehlender Schwerkraft ist das Immunsystem geschwächt, eine potenzielle Infektion kann nur schwer abgewehrt werden.
Es geht aber um noch viel mehr: Die Erkenntnisse können als Grundlagen für zukünftige Therapieentwicklungen bei Infektionskrankheiten oder Erkrankungen des Immunsystems dienen. Welche Prozesse führen dazu, dass gealtertes Knochenmark das Immunsystem schwächt? Inwiefern verändert sich die Aktivität von Genen, die mit dem Immunsystem im Zusammenhang stehen?
Dazu schickt das Forschendenteam Stammzellen in vollautomatischen Mikrolabor-Boxen von yuri auf die ISS. Zwei Zellarten wurden in Hydroxylapatit präpariert, einem Hauptbestandteil in Knochen. Das Besondere: Erst in gravitationsarmer Umgebung bilden sich Sphäroide, dreidimensionale Zellnester, so wie das Knochenmark im menschlichen Körper vorliegt – und wie es in keinem Labor auf der Erde stabil dargestellt werden kann. Der Grund? Zellen wie auch Proteine sind instabil und zerfallen zu schnell, um sie in ihrem natürlichen Netzwerk analysieren zu können. Dort, wo sich Schwer- und Zentrifugalkraft infolge der Orbitbewegung fast aufheben und es weder Ablagerungen noch Konvektionen gibt, sind dreidimensionale Zellgewebe möglich. Wie bilden sie sich? Wie sind Lebensfähigkeit und räumliche Trennung der verschiedenen Zelltypen innerhalb der mehrschichtigen Struktur der Sphäroide?
Aufschluss geben sollen die Proben, die nach Landung auf der Erde mittels 3D-Lichtscheibenmikroskopie analysiert werden. Auch die Genexpression wird ermittelt. Die genaue Kenntnis der räumlichen Struktur sowie beteiligter Gene hilft, Funktionen und Eigenschaften besser zu verstehen, um pharmazeutische Anwendungen entwickeln zu können. Kugel sieht hier eine weitere Perspektive: „Da Körperzellen unter Mikrogravitation wie echte Körpergewebe wachsen, wird es im Weltraum möglich sein, verbesserte künstliche Gewebe und auch Organe zu erzeugen.“ Sie könnten in der Transplantationsmedizin Anwendung finden oder in der Präzisionsmedizin, bei der sich mit künstlich erzeugtem Eigengewebe die optimale Wirkstoffkombination für jede Person ermitteln ließe. Zudem könnten die im All gezüchteten Gewebe die Zahl der Tierversuche reduzieren.
Muskelzellen wachsen lassen
Bereits nach ein bis zwei Wochen Aufenthalt im All beginnt sich Muskelmasse abzubauen, da sie im gravitationsfreien Zustand keine Körperlast trägt. „Wichtig wäre, im Detail zu verstehen, wie es zur Muskelrückbildung kommt. So könnte man Parallelen bei Betroffenen aufdecken, die an Muskelschwund leiden“, so Kugel. Hier kommt das Institut für Integrative Neuroanatomie der Berliner Charité ins Spiel. Das Team um Dr. Michele Salanova geht im Projekt NEMUCO1) (Nerve-Muscle Co-culture) der Frage nach, welche Faktoren bei der Entmineralisierung der Knochen und Sensibilitätsstörung bestimmter Nervenendigungen eine Rolle spielen.
Auch hier erhofft man sich tiefe Einblicke „out of the box“: Dafür werden isolierte Nervenzellen zusammen mit jungen Muskelzellen gezüchtet und in Zellboxen auf die ISS geschickt. Noch in Schwerelosigkeit werden die Zellen in ihrem 3D-Gebilde fixiert und die Proben nach Rückkehr an der Charité ausgewertet. RNA-Sequenzierungen und Analysen aller Proteine der Zellen sollen Aufschluss über beteiligte Moleküle und Signalwege bei der Interaktion zwischen Nerven- und Muskelzellen geben.
Der Gedanke dahinter? Es sollen Zusammenhänge entdeckt werden, die zu einer Verschlechterung von Struktur und Funktion der neuromuskulären Verbindungsstellen führen und so Muskelkontrolle und Feinmotorik beeinträchtigen. Ein möglicher Meilenstein für die Entwicklung neuer Therapien zum Aufbau gesunden Muskelgewebes. Denn Autoimmunerkrankungen, Myo- und Polyneuropathien, Alterungsprozesse oder längere Bettlägerigkeit führen genauso zu einer Verschlechterung der Muskulatur wie Aufenthalte im Weltraum.
Biotech-Pionier im All
Bevor ein Experiment den Weg in die Science-Box fürs All findet, gibt es einige Schritte am Boden, wie Kugel erklärt: „Wir analysieren mit den Forschendenteams die Machbarkeit. Dabei können unsere bisherigen Erkenntnisse mit 3D-Gewebsmodellen für künftige Experimente wertvoll sein. Für das Screening von Medikamenten, Toxizität oder zur Entwicklung von gesundem Gewebe.“ Damit im engen Zeitfenster kurz vor Raketenstart die Präparation der Proben gelingt, haben die Forschenden die Abläufe unter Realbedingungen geübt. Knifflig dabei: Es dürfen keine Luftblasen in den Zellkulturen eingeschlossen sein oder durch Dichtungsprobleme entstehen, sonst sterben die Zellen ab. Am Starttag heißt es dann: Ab in die Boxen, die nach Installation in einem ISS-Inkubator nach vorgegebenem Zeitplan automatische Medienwechsel und Fixierungen erfahren und anschließend bei 4 °C gelagert werden.
Dass das Start-up am Bodensee einen Senkrechtstart hingelegt hat, zeigt sich an der Entwicklung seit Gründung 2019. Unzählige Auszeichnungen bestätigen das Potenzial der Gründungsidee, die yuri inzwischen zu einem 30-köpfigen Team an den Standorten Meckenbeuren und Luxemburg hat wachsen lassen. Das Ziel ist gesteckt; yuri will zum Weltraum-Biotechunternehmen werden und so Treiber vieler Innovationen: Stress- und Hirnforschung, Forschung zu neurodegenerativen Erkrankungen, Immun- und Infektionskrankheiten oder Entstehung von Tumoren bis hin zu Materialwissenschaften und Mikroelektronik für die Medizintechnik – der Horizont scheint unendlich. Man darf gespannt sein, was yuri alles hervorbringen wird.