Innovation in Space
Senkrechtstart in der Schwerelosigkeit – ein Start-up ermöglicht kommerzielle Forschungsexperimente im All
Hoch hinaus – so lässt sich das Leitziel des 2019 gegründeten Start-ups yuri zusammenfassen. Forschung in Schwerelosigkeit, zur Entwicklung von Materialien bis hin zu neuen Medikamenten und Impfstoffen, ist ihre Mission, die bis zur ISS reicht. Die Gründer ermöglichen passgenaue Lösungen, schneller und erschwinglicher als in bisherigen Missionen.
Zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nur gewinnen, wenn Experimente der Schwerkraft entfliehen. Deshalb ist die Weltraumforschung Treiber vieler Innovationen, etwa in der Medizin, Biotechnologie, den Materialwissenschaften oder der Mikroelektronik. So lassen sich beispielsweise leitfähigere Materialien und bessere Medikamente ohne störende Einflüsse entwickeln . Dieser Gedanke treibt die drei Weltraum-Ingenieure Maria Birlem, Christian Bruderrek, Philipp Schulien und den Technologiemanager Mark Kugel an, die im Sommer 2019 das Start-up yuri GmbH in Meckenbeuren gegründet haben.
Forschung abgehoben – die Idee des Start-ups
„Annähernde Schwerelosigkeit eröffnet komplett neue Perspektiven“, erklärt Geschäftsführer Mark Kugel. „Beispielsweise lassen sich Glasfaserkabel oder menschliches Gewebe besser untersuchen und herstellen als auf der Erde.“ Der Haken: Der Zugang zur Schwerelosigkeit ist ein langwieriger und teurer Prozess, sodass viele Forschungsideen schnell verpuffen. Das Unternehmen yuri füllt dieses Vakuum und vereinfacht den Prozess durch ein geschicktes Management aller Formalitäten und beteiligten Personen sowie Verwendung spezieller Hardware und Plattformen bis hin zum Flug. All dies macht den Zugang zum All erheblich einfacher, schneller und erschwinglicher – was sich nicht nur an Raumfahrtunternehmen richtet. Vor allem Pharmakonzerne, Forschungsinstitute und KMUs können profitieren. „Wir bündeln mehrere Experimente in einer Mission, um die Kosten für die Raumfahrt zu senken. Zudem reduzieren wir die Forschungszeit auf sechs Monate. Unter dem Strich können wir somit eine ISS-Forschungsmission für 100.000 Euro statt für bisher 1 Million Euro ermöglichen.“ Der 29-jährige zweifache Start-up-Gründer, der an der TU München Innovation & Entrepreneurship studiert hat, hat Erfahrung auf dem Gebiet Innovation und Agilität und konnte die digitale Transformation einiger Unternehmen vorantreiben. Zusammen mit seinen Mitgründern schickt er nun Experimente auf Parabelflüge, Raumkapseln und die Internationale Raumstation (ISS).
Die Leichtigkeit des Seins – Schwerelosigkeit als Forschungsbasis
Doch wie macht das Start-up all das? „Wir haben einen rund zehn Kubikzentimeter großen, wiederverwendbaren Kasten entwickelt – eine Art Mini-Labor. Wir leiten Forscher im Umgang damit an, sodass sie hier im kleinen Maßstab ihre Experimente aufbauen können.“ Für ein Experiment auf der ISS müssen im Idealfall die Astronauten die Forschungsboxen nur in eine Plattform stecken, um die Experimente automatisch ablaufen zu lassen.
Yuri kann eine geballte Expertise vorweisen: Maria Birlem, die gleichzeitig auch Geschäftsführerin ist, Christian Bruderrek und Philipp Schulien haben Raumfahrttechnik studiert und als Ingenieure bei Airbus gearbeitet. Unter der dort etablierten Marke „Kiwi“ konnten sie neun Missionen zur ISS organisieren, unter anderem für die US-Raumfahrtbehörde NASA, die Europäische Raumfahrtagentur ESA und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR. Die Geschäftsidee für ihre neue Firma yuri? „Wir haben gesehen, dass die Nachfrage nach Raumfahrt-Experimenten zunimmt, das Interesse an neuen und aussichtsreichen Forschungsansätzen groß. ist Als kleines, privates Unternehmen ist man auf dem privaten Markt viel agiler als große Konzerne. Mit yuri bieten wir die Hardware, also kommerzielle, modulare Experimentierräume zur Analyse der Auswirkungen von Schwerelosigkeit.“ Die Player dabei sind vielseitig, von Werkstoffmaterialien, Zellen oder Pflanzen finden sie alle in entsprechenden Forschungskästchen Platz und können bei den entsprechenden Flügen mitreisen.
„Wir erarbeiten passgenaue Lösungen für die Forschungsansätze der Kunden“, erläutert Kugel. „Wo das Experiment durchgeführt wird, hängt von der erforderlichen Experimentierzeit und Stärke der Schwerelosigkeit ab, dem die Probe ausgesetzt werden soll.“ Mehrere Szenarien sind dabei möglich. Die einfachsten sind Fallturm-Experimente oder Parabelflüge, bei denen sogar der Wissenschaftler das Experiment beim 20-sekündigen „Sturz auf den Boden“ im Flugzeug begleiten kann. Eine längere Dauer der Mikrogravitation lässt sich mit suborbitalen Raumflügen erreichen, bei denen eine Rakete bis an die Grenzen des Weltraums in über 100 km Höhe gestartet wird und anschließend zur Erde zurückfällt. Da die Dauer mit fünf bis zehn Minuten noch immer vergleichsweise kurz ist, kann auch der orbitale Raumflug in der Umlaufbahn, wie mit der ISS, genutzt werden.
Warum aber Versuche unter Schwerelosigkeit? Alles auf der Erde ist der Schwerkraft unterworfen. Sie bestimmt fast alle physikalischen, biologischen und chemischen Phänomene, die auf unserem Planeten auftreten. Mikrogravitation, also Schwerelosigkeit, ist eine Umgebung, in der die Schwerkraft nicht wirkt – fast, denn eine 100%ige Mikrogravitation herrscht nur weit entfernt von Sternen oder Planeten. Unter Mikrogravitation lassen sich grundlegende Phänomene und Zusammenhänge erkennen und so neue Entwicklungen schaffen, die auf der Erde einen großen Fortschritt bedeuten können. Auch wenn entscheidende Erkenntnisse zu Oberflächenbenetzung, Grenzflächenspannung sowie Strömungs-, Erstarrens- und Verbrennungsvorgängen gewonnen werden können, fokussiert sich yuri besonders auf biologische Experimente.
Gelungener Start – die ersten Experimente
Seit ihrer Gründung im letzten Juni kann yuri bereits drei Aufträge verzeichnen, wobei der erste auf einen Klinostat zurückgreift, das heißt eine Labor-Apparatur, die durch Rotationsbewegungen Schwerelosigkeit auf der Erde simulieren kann. Mit dieser Methode lassen sich verschiedene Zellen untersuchen, bei Pflanzenzellen beispielsweise Mechanismen zur Erfassung ihrer Schwerkraft und folglich des Wachstums. Erkenntnisse dazu helfen, neue Ansätze zu entwickeln, zum Beispiel zu verbesserten Ernteerträgen, Entwicklung neuer Sorten und erhöhter Biokraftstoffproduktion.
Neben einem Parabelflug-Experiment wird yuri noch dieses Jahr mindestens eine ISS-Mission starten: Mit der Australian Space Agency ASA und der University of Technology aus Sydney soll das Wachstumsverhalten von Tumorzellen in der Schwerelosigkeit untersucht werden. Unter Mikrogravitation bilden Zellen – ohne künstliche Matrizen – komplexe 3D-Strukturen, die dem nativen Gewebe im menschlichen Körper ähnlich sind. Der kugelförmige Haufen dient als perfektes Modell, um das Verhalten von Zellen zu untersuchen, wie sie auch als Tumor-Sphäroid vorliegen. Das bietet nicht nur Perspektiven für die tierversuchsfreie Entwicklung neuer Medikamente gegen Krebs, sondern auch gegen Alterskrankheiten und Osteoporose. Die unter Mikrogravitation mögliche detaillierte Analyse von Zell-Zell-Interaktionen, die den Vorgängen im menschlichen Körper ähneln, können auch wichtige Erkenntnisse zur Impfstoffentwicklung liefern, etwa durch Ergebnisse zu Bewegung und Anhaftung einzelner Zellen sowie zu Signalwegen. Informationen lassen sich darüber hinaus auch über die Kristallstruktur von Proteinen, die deren Funktion bestimmt, gewinnen, denn unter fehlenden Konvektionsströmungen bleiben sie stabil.
Des Weiteren lassen sich unter Mikrogravitation Untersuchungen zur Fluiddynamik nutzen, um Medikamentenverabreichungssysteme oder diagnostische Instrumente zu optimieren.
Die yuri-Gründer sehen ihre Marktchancen darin, dass sie den Forschern durch zertifizierte Experimentierkästen kostensparende Lösungen bieten und ein Netzwerk aus Forschungsplattformen und Partnern vermitteln können. Dabei geht es nicht nur um biologische Forschung, sondern auch um Forschung zu neuen Materialien mit günstigen Eigenschaften, die viele Prozesse auf der Erde nachhaltig begünstigen können.
In Meckenbeuren bei Friedrichshafen sehen die vier Gründer des global agierenden Unternehmens einen guten Ausgangsplatz. Sowohl Universitäten als auch Unternehmen wie Airbus Defence and Space GmbH oder ZF Friedrichshafen AG befinden sich in der Nähe. Und nebenbei freut sich yuri, den Gründer-Spirit über den Bodenseeraum fliegen zu lassen.
Aktuell sind die Vorbereitungen der Experimente für die ISS-Mission im Herbst 2020 in vollem Gange. Wir werden in absehbarer Zeit zu diesen und auch vergangenen Experimenten in der Zell- und Immunbiologie in einem weiteren Artikel berichten.