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Augmented Reality zur visuellen Orientierung

Sturzprävention mit Hilfe gleichgewichtsfördernder AR-Brille

Im Alter werden die Augen schlechter und liefern immer weniger visuelle Orientierung. Dies kann zu Gleichgewichtsstörungen und fatalen Stürzen führen. Ein Team um Dr. Lorenz Assländer von der Universität Konstanz entwickelt derzeit den Prototyp einer Augmented Reality (AR) -Brille, die mit Hilfe eingeblendeter Muster die visuelle Orientierung im Raum erleichtern und damit die Körperstabilität verbessern soll.

Stürze stellen weltweit ein großes Gesundheitsproblem dar.1) Sie können schwerwiegende Verletzungen verursachen und dadurch zu langanhaltenden Beeinträchtigungen oder sogar zum Tod führen. Vor allem das Alter gilt als großer Risikofaktor; etwa ein Drittel der Personen über 65 fällt einmal pro Jahr.2) Auch wenn die meisten dieser Stürze glimpflich verlaufen, erfordern fünf bis zehn Prozent eine medizinische Behandlung und erhöhen die Gefahr deutlich, pflegebedürftig zu werden.

Auslöser sind häufig altersbedingte Probleme bei der Kontrolle des Gleichgewichts, also der Fähigkeit, den Körperschwerpunkt über einer Unterstützungsfläche stabil zu halten. Abnehmende Körperspannung sowie geschwächte Beinmuskulatur beispielsweise führen zu Gangunsicherheit und vermehrtem Stolpern. Die schlechtere bzw. langsamere Verarbeitung von sensorischen Informationen durch das Zentralnervensystem (ZNS) geht ebenfalls mit zunehmender Instabilität einher.

Drei Informationssysteme wichtig für Körperstabilität

Um die Balance halten zu können, greift das ZNS im Wesentlichen auf drei sensorische Systeme zurück: Das visuelle System liefert Informationen aus unserem Blickfeld und damit über die räumliche Orientierung des Kopfes zur Umgebung. Das vestibuläre System mit den Gleichgewichtsorganen der Innenohre detektiert unsere Position in Bezug auf die Schwerkraft und zeigt Geschwindigkeitsveränderungen des Kopfes an, beispielsweise als Folge von Drehbewegungen oder Tempoveränderungen beim Gehen. Und das propriozeptive System gibt über seine Rezeptoren in Muskeln und Gelenken sowie der Haut Auskunft über die Stellung der Gliedmaßen zueinander, aber auch über die Beschaffenheit des Untergrunds.

„Das ZNS muss entscheiden, welche Informationen zuverlässig sind und diese so kombinieren, dass ich das Gleichgewicht halten kann, auch wenn ich mich auf instabilem Boden bewege, oder wenn direkt vor meinen Augen ein Zug wegfährt“, beschreibt Dr. Lorenz Assländer vom Zentrum für Trainings- und Bewegungsforschung (HPRC, Human Performance Research Centre) der Universität Konstanz die Herausforderung. Nur durch ständiges Abgleichen der Ist- und Soll-Position und daraus resultierendem Anpassen der Muskelkontraktionen kann der fragile Zustand aufrechterhalten werden. „Die visuelle Information über die eigene Orientierung im Raum hängt dabei sehr stark von der Struktur dessen ab, was wir sehen. Eine glatte weiße Wand ohne jegliche Kontraste erschwert uns die Orientierung; genauso wie es nicht einfach ist, bei geschlossenen Augen stabil auf einem Bein zu stehen“, führt der Bewegungs­wissenschaftler aus, der schon lange den Beitrag des visuellen Systems zum Gleichgewicht untersucht.

AR-Brille liefert raumstationäre optische Orientierungspunkte

Links das Porträt eines Mannes mittleren Alters im blauen Hemd, in der Mitte ist ein junger Mann mit sehr kurzen Haaren im dunklen Poloshirt zu sehen und rechts ein Mann mittleren Alters in weißen Hemd und Jackett.
Dr. Lorenz Assländer (links) entwickelt zusammen mit den beiden Informatikern Matthias Albrecht (Mitte) und Prof. Dr. Stephan Streuber (rechts) eine AR-Brille zur Sturzprävention. © Universität Konstanz

Vor diesem Hintergrund entwickelt er derzeit zusammen mit dem Informatik-Doktoranden Matthias Albrecht und Prof. Dr. Stephan Streuber von der Hochschule Coburg einen Prototyp für eine Augmented Reality (AR, zu Deutsch: erweiterte Wirklichkeit) -Brille, die die visuelle Orientierung verbessern soll. Über die Brille eingeblendete optische Anhaltspunkte sollen dem Träger zusätzliche Informationen zur Horizontalen und Vertikalen liefern und es ihm dadurch erleichtern, die Balance zu halten. Assländer erläutert: „Eine große technische Herausforderung ist es, die Orientierungspunkte so zu installieren, dass sie auch bei Bewegungen des Kopfes fest im Raum verankert sind. Außerdem müssen wir gewährleisten, dass die Darstellung auf eine Art und Weise stattfindet, die im Alltag nicht stört. Unser Gegenüber soll schließlich kein Fadenkreuz auf der Nase haben.“ Aus diesem Grund konzentriert sich das Team auf das periphere Sichtfeld. Mit Hilfe eines kleinen Bildschirms erscheinen in diesem Bereich des Brillenglases beispielsweise Linien oder Punkte, die sich bei Veränderungen der Kopfposition in die entgegengesetzte Richtung bewegen und dementsprechend raumstationär wirken.

Erfolgreicher Machbarkeitsnachweis

Die Forschenden führten bereits einen Proof of Concept durch und demonstrierten, dass sich das bei verhülltem Sichtfeld auftretende Spontanschwanken durch die AR-Brille deutlich minimieren lässt. Seit Januar 2023 wird das Projekt „Augmented Balance“ jetzt vom Land Baden-Württemberg im Rahmen des Programms „Prototypenförderung für innovative Technologien“ unterstützt. Ziel ist die Entwicklung eines funktionsfähigen, gut handhabbaren Gerätes, das anschließend von älteren Personen getestet werden kann. Dafür muss die Technologie noch weiter ausgefeilt, und vor allem muss die optische Darstellung verbessert werden. Dies soll im Rahmen einer Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für Angewandte Optik und Feinmechanik IOF in Jena erreicht werden. Bisher arbeiten die Forschenden nur mit frei verkäuflichen Bauteilen von der Stange. Für eine gute und kontrastreiche Darstellung benötigen sie aber angepasste Gläser.

Links das erste klobige Modell einer AR-Brille auf einem Tisch liegend, in der Mitte ein Mann in schwarzem T-Shirt mit einem Modell der AR-Brille auf dem Kopf und rechts das minimalistische Zukunftsmodell der AR-Brille auf dem Kopf einer Schaufensterpuppe.
Links: Erstes Modell einer AR-Brille mit kleinen seitlichen Bildschirmen, um die bevorzugte Position der Einblendung zu testen. Mitte: Erweitertes Modell mit kleinen Bildschirmen sowie halbreflektierenden Gläsern. Rechts: Zukunftsvision der AR-Brille © Assländer, Universität Konstanz

Assländer fasst zusammen: „Wenn es gelingt, die visuelle Orientierung älterer Menschen im Alltag zu verbessern, besteht berechtigte Hoffnung, dass Stürze vermieden werden können. Und wenn sich die Betroffenen durch die AR-Brille sicherer fühlen, dann sind sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch wieder mobiler und stärken so ihre physische Verfassung.“ Dies erleichtert ebenfalls die Gleichgewichtskontrolle.

Für die innovative Idee hat das Team bereits ein Patent beantragt. Ähnliche, aber deutlich einfachere Ansätze gibt es derzeit nur im Bereich der Reiseübelkeit; hier wird mit Hilfe von Brillen ein künstlicher Horizont erzeugt. Zur Sturzprävention im Alter dienen bisher ausschließlich Hilfsmittel wie Gehstöcke oder Rollatoren, die allerdings lediglich in der Lage sind, die Gleichgewichtsstörungen abzufangen, aber nicht zu vermindern. Die AR-Brille hingegen gleicht zugrundeliegende sensorische Defizite aus und reduziert bereits das Ausmaß der Instabilität.

Literatur:

1) World Health Organization (2021), Fact sheets: Falls. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/falls

2) gesund.bund.de (2022): "Stürze bei älteren Menschen: Gesund durch Bewegung". https://gesund.bund.de/stuerze-aeltere-menschen#folgen

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/sturzpraevention-mithilfe-gleichgewichtsfoerdernder-ar-brille