zum Inhalt springen
Tabletbasierte Diagnostik

TuCAN – innovatives Diagnostikverfahren für neuropsychiatrische Erkrankungen

Neuropsychiatrische Erkrankungen werden häufig erst spät erkannt und schränken Betroffene in ihrer Lebensqualität ein. Um ihnen durch eine passgenaue Behandlung zu helfen, ist eine Diagnose in einem frühen Krankheitsstadium notwendig. Eben dieses Ziel verfolgt das Tübinger Projekt TuCAN mit einer frühen und differenziellen Diagnostik neuropsychiatrischer Erkrankungen.

In Deutschland leiden 1,5 Mio. Menschen an Demenz1), einer neurodegenerativen Erkrankung, die auch zu den neuropsychiatrischen Erkrankungen zählt. Die Ursache von neurologischen, chronisch-fortschreitenden Erkrankungen sind die Degeneration und das Absterben von Nervenzellen. Menschen, die daran erkrankt sind, leiden an zunehmenden Ausfallerscheinungen, wodurch sie in ihrem alltäglichen Leben beeinträchtigt werden. Für die Betroffenen stehen momentan lediglich Therapien zur Verfügung, mit welchen die auftretenden Symptome behandelt und der Verlauf der Erkrankung verlangsamt werden können, denn bisher sind neuropsychiatrische Erkrankungen nicht heilbar.

Deshalb ist es notwendig, neuropsychiatrische Erkrankungen mittels frühzeitiger und differenzierter Diagnostik zu erkennen und unmittelbar mit einer Therapie zur Verlangsamung des Krankheitsverlaufes zu beginnen. Zur Diagnosestellung werden psychologische Testverfahren wie beispielsweise der Montreal Cognitive Assessment (MoCA) Test – ein gängiger Papier-Bleistift-Test – herangezogen. Hierbei erhalten die Patientinnen und Patienten Aufgaben, um die kognitiven Fähigkeiten wie Gedächtnis, Sprache, zeitliche und räumliche Orientierung sowie die Aufmerksamkeit zu testen. Im Normalfall wird der Test in der örtlichen Klinik oder Hausarztpraxis durchgeführt, und die Ärztin oder der Arzt werten den Test händisch anhand von Kriterienlisten aus. Nicht nur die Auswertung konventioneller Papier-Bleistift-Tests ist dadurch zeitintensiv, auch die für die umfangreiche Diagnostik notwendigen Parameter können nicht umfänglich erhalten werden.

Infokasten

Neuropsychiatrie:
Die Neuropsychiatrie beschäftigt sich mit organisch bedingten kognitiven und psychischen Störungsbildern (z. B. Depression, Schizophrenie, deliranten und zwanghaften Symptomatiken oder Bewegungsstörungen) und bewegt sich somit im Grenzbereich der Fächer Neurologie und Psychiatrie. Ursache für neuropsychiatrische Erkrankungen sind organische Pathomechanismen wie beispielsweise Entzündungen, Infektionen oder Stoffwechselstörungen.
Epilepsien, neurodegenerative Erkrankungen, Basalganglien-Erkrankungen oder Autismus-Spektrum-Störungen zählen zu den klassischen neuropsychiatrischen Erkrankungen.2), 3)

Neurodegeneration:
Neurodegenerative Erkrankungen, die auch zu den neuropsychiatrischen Erkrankungen zählen, sind Erkrankungen des Nervensystems. Die Ursache dieser Erkrankungen sind die Degeneration und das Absterben von Nervenzellen des zentralen Nervensystems. Neurologische und psychiatrische Dysfunktionen wie beispielsweise Störungen des Orientierungssinns, des Gedächtnisses, der Orientierung und der Motorik sind Folgen des fortschreitenden Verlusts von Nervenzellen. Zu den bekanntesten neurodegenerativen Erkrankungen zählen Morbus Alzheimer, die Parkinson-Krankheit und die Amyotrophe Lateralsklerose.4)

Präzisere und schnellere Diagnose mittels regelbasierter Auswertung kombiniert mit Machine Learning

Dies wollen der Psychologe Christian Mychajliw und sein Team nun ändern. Die Idee für das Projekt TuCAN – Tübingen Cognitive Assessment for Neuropsychiatric Disorders – fanden Mychajliw, zuständig für Wissenschaft und Organisation im Projekt, und der Informatiker Heiko Holz im Jahr 2018 durch einen Artikel über die Digitalisierung eines gängigen Papier-Bleistift-Tests. Aus der anfänglichen Idee, die in dem Artikel beschriebene Auswertung von digitalisierten Papier-Bleistift-Tests zu optimieren, entstand eine Kooperation zwischen dem Lehrstuhl für Medieninformatik und dem Geriatrischen Zentrum der Universitätsklinik Tübingen.

Im Rahmen von Forschungs- und Abschlussarbeiten entwickelt das mittlerweile sechsköpfige Team tabletgestützte, innovative und valide Diagnostikverfahren für neuropsychiatrische Erkrankungen. Mit der App können Ärztinnen und Ärzte sowie Psychologinnen und Psychologen die Tests durchführen und erhalten dann die aufbereiteten und ausgewerteten Ergebnisse. Neben dem Nutzen der daraus entstehenden Zeitersparnis sowohl für die Patientinnen und Patienten wie auch für die Ärztinnen oder Ärzte gibt es noch einen weiteren Vorteil: „Durch die Digitalisierung einer zuvor Papier-Bleistift-basierten Aufgabe, wie sie zur Diagnose von neuropsychiatrischen Erkrankungen eingesetzt wird, können zusätzliche Parameter wie Bearbeitungszeit, Bewegungsabläufe und Druckstärke erhoben werden. Diese fließen in die Erstellung von Auswertungsmodellen ein, wodurch eine viel genauere Aussage über leichte kognitive Einschränkungen oder eine beginnende Demenz getroffen werden können, als wenn nur die Ergebnisse einer konventionellen Papier-Bleistift-Aufgabe herangezogen werden – und das bereits früher im Krankheitsverlauf“, so TuCAN App-Entwickler und technischer Leiter Holz.

Abfolge von Skizzen, die den Untersuchungsablauf für neurodegenerative Erkrankungen anhand von neuropsychologischen, digitalisierten Papier-Bleistift-Tests zeigen.
a) Zur Erkennung von neurodegenerativen Erkrankungen werden üblicherweise Papier-Bleistift-Tests von der Ärztin oder dem Arzt durchgeführt. b) Durch das von TuCAN entwickelte Diagnostiktool kann die Patientin oder der Patient den Papier-Bleistift-Test in einer digitalisierten Variante direkt auf dem Tablet mit einem digitalen Stift durchführen. c) Mit moderner digitaler Technologie können mehr Daten erhoben werden. Diese zusätzlich erhobenen Parameter beinhalten zum Beispiel Bewegungsabfolgen, Druckstärke beim Schreiben und Zeichnen sowie die Zeit, die benötigt wird, bis die Aufgabe erfüllt ist. d) Mit diesen zusätzlichen Daten kann - das hat die Forschung gezeigt - früher und genauer festgestellt werden, ob Anzeichen für eine neurodegenerative Erkrankung vorliegen. Durch den automatischen Auswertungsprozess spart die Ärztin oder der Arzt Zeit und Ressourcen. © TuCAN-Team

Begonnen hat das Team mit der Digitalisierung des Uhren-Tests, der in der Demenz-Diagnostik sehr häufig eingesetzt wird. Dabei sollen die Patientinnen und Patienten eine Uhr zeichnen. Auffälligkeiten beim Zeichnen der Uhr lassen Rückschlüsse über eine mögliche Demenzentwicklung zu. „Dabei gehen gesunde Menschen viel systematischer vor als Menschen mit einer beginnenden Demenz“, berichtet Holz. Dies kann an den zusätzlich erhobenen Parametern in der digitalisierten Variante des Tests abgelesen werden, wodurch noch mehr Personen herausgefiltert werden können, bei denen erste neuropsychiatrische Anzeichen, wie beispielsweise verlangsamte Bewegungen, Zittern oder Orientierungslosigkeit, erkennbar sind. Dafür werden neben der regelbasierten Auswertung, durch die unter anderem abgelesen werden kann, welche Uhr die Patientin oder der Patient gezeichnet hat, die digital erhobenen Parameter betrachtet, um mittels Machine Learning ein Auswertungsmodell zu trainieren. Dieses unterstützt die Ärztin oder den Arzt bei der Diagnosestellung. „Durch die Kombination einer standardmäßigen mit einer objektiveren und schnelleren Auswertung können Zeitersparnis und Genauigkeit erzielt werden. Diese sind bei den vielen notwendigen Assessments wichtig“, erklärt Franz Wortha, zuständig für den Bereich Machine Learning.

Für die Erhebung ihrer Datensätze beteiligen sich Mychajliw und sein Team an der TREND-Studie – Tübinger Erhebung von Risikofaktoren zur Erkennung von NeuroDegeneration. Die Studie hat das Ziel, möglichst früh Symptome und den Verlauf neurodegenerativer Erkrankungen zu erkennen, um frühzeitig mit einer nervenzellschützenden Therapie beginnen zu können. Darüber hinaus werden auch in kleineren Studien Datensätze erhoben, die das Forschendenteam in seine Auswertungsmodelle mit einfließen lässt.

Interdisziplinäres Projektteam mit wegweisenden Plänen

Wabenförmig angeordnete Porträts des sechs-köpfigen TuCAN-Teams. In der Mitte befindet sich das Logo des Projekts.
Das Team von TuCAN (im Uhrzeigersinn v.l.): Franz Wortha, Heiko Holz, Christian Mychajliw, Kristina Dawidowsky, Christoph Gäbele und Louisa Sting zusammen mit dem Maskottchen von TuCAN. © TuCAN-Team

Trotz der momentanen Hürde einer fehlenden finanziellen Unterstützung lässt sich das Team, zusammengesetzt aus Expertinnen und Experten für Psychologie, Kognitionswissenschaften und Informatik, nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Neben der Verbesserung der Lebensqualität von Patientinnen und Patienten treibt das Team das Ziel an, „mit unserer frühzeitigen Diagnose auch einen Beitrag zu leisten, um vielversprechende Therapien zu finden, die in einem frühen Krankheitsstadium ansprechen, allerdings in einigen Pharmastudien keinen Erfolg gezeigt haben, da die Erkrankung zum Zeitpunkt des Einschlusses der Patientin oder des Patienten in die Studie bereits zu weit fortgeschritten war“, so Mychajliw.

Die Interdisziplinarität und Cross-Funktionalität im Team ist der Schlüssel zum Erfolg des Projekts, das in einem Zeitraum von 2018 bis 2022 durch die BMBF-Förderung „Gründungen: Innovative Start-ups für Mensch-Technik-Interaktion“ gefördert wurde. In dieser Förderphase entstand das Kernstück des Projekts – die App, in die bereits einige Diagnostiktools integriert wurden und zukünftig Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung stehen soll. Diese soll im weiteren Verlauf weiter ausgebaut werden, sodass neben den klassischen Papier-Bleistift-Aufgaben auch sprachbasierte Aufgaben ausgewertet und für die Diagnostik herangezogen werden können. Ein langfristiges Ziel ist dabei auch die Differenzialdiagnostik, damit den Patientinnen und Patienten eine noch passgenauere Therapie zur Verfügung gestellt werden kann.

Nicht nur das Projektteam sieht Potenzial in seinem Projekt: TuCAN nahm neben der MedTech Startup School des Life Science Accelorators auch an einigen Wettbewerben teil. Auf der MobileHCI gewann das Team 2018 in Barcelona den Poster Award, gefolgt von einem 3. Platz beim Startup Pitch der Startup:con Tübingen 2021 und dem ebenfalls 3. Platz beim Science2Start-Wettbewerb der BioRegio STERN Management GmbH 2022. Dabei soll es allerdings nicht bleiben. Das Ziel der Gründung fest im Blick, ist das Team auf der Suche nach einer Anschlussfinanzierung für sein Projekt, um durch innovative und valide Diagnostiktools die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten möglichst lange aufrecht zu erhalten.

Referenzen:

1) Süddeutsche Zeitung: "Demenz - das große Vergessen". https://www.sueddeutsche.de/wissen/podcast-recherche-demenz-deutschland-angehoerige-1.5582485?utm_source=bing&utm_medium=cpc&utm_campaign=B_DE_Podcast_Thema_Folgen_Generic&utm_term=alzheimer%20deutschland&utm_content=B_DE_Podcast_Thema_Folgen_Demenz_Generic

2) Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.: "Neuropsychiatrie". https://www.dgppn.de/die-dgppn/referate/neuropsychiatrie.html

3) Price, B.H.; Adams, R.D.; Coyle, J.T. (2000). “Neurology and psychiatry: Closing the great divide”. Neurology 54 (1): 8-14

4) vfa Patientenportal: "Was sind neurodegenerative Erkrankungen?" (2020). https://www.vfa-patientenportal.de/erkrankungen/neurodegenerative-erkrankungen/was-sind-neurodegenerative-erkrankungen.html

Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie-bw.de/fachbeitrag/aktuell/tucan-innovatives-diagnostikverfahren-fuer-neuropsychiatrische-erkrankungen