Teil 1 der Experteninterviews
Vernachlässigte Tropenkrankheiten – Carsten Köhler: Impulse aus Baden-Württemberg
Mehr als eine Milliarde Menschen leiden weltweit an vernachlässigten Tropenkrankheiten (Neglected Tropical Diseases, NTDs). NTDs sind zwanzig, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gelistete, meist armutsassoziierte Infektionskrankheiten, die, trotz ihrer Bedeutsamkeit, in ihrer Erforschung und Bekämpfung vernachlässigt werden. Dr. Dr. Carsten Köhler, Direktor des Kompetenzzentrums Tropenmedizin des Universitätsklinikums und der Universität Tübingen, Mitglied im Vorstand des Deutschen Netzwerks gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten e.V. sowie 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin und Internationale Gesundheit e.V. berichtet im Interview mit Sarah Triller, welchen politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Beitrag Deutschland und Baden-Württemberg für eine erfolgreiche Bekämpfung dieser Krankheiten leisten können.
Warum werden die Forschung und Bekämpfung von NTDs vernachlässigt?
NTDs betreffen meist Menschen, die zu den ärmsten der Welt gehören. Viele Patienten sind an mehr als einer NTD erkrankt. Es sind diese erkrankten Menschen, die auf unserem Planeten vernachlässigt werden – hauptsächlich, weil sie keine starke Stimme für ihre Belange in ihren Ländern und weltweit haben. Die Krankheiten treten daher häufig dort auf, wo die Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, ausreichender Nahrung und Gesundheitsversorgung hat, also vor allem in ländlichen Regionen der Tropen und Subtropen. Diese Regionen mit ihren Menschen stehen selten im Fokus der Weltöffentlichkeit, zumal es sich bei den NTDs meist um chronisch verlaufende Erkrankungen handelt, die weniger weltöffentliche Aufmerksamkeit erlangen als akute Epidemien wie zum Beispiel Ebola. Aber alle sogenannten „Low-Income“-Länder sind von mindestens fünf NTDs gleichzeitig, 149 Länder und Territorien zumindest von einer NTD betroffen.
Welche Rolle spielt Deutschland in der Erforschung und Bekämpfung von NTDs im internationalen Vergleich?
Nicht zuletzt durch die mehrfachen Ebola-Ausbrüche in Westafrika und die Zika-Infektionen in Lateinamerika ist die Pandemieprävention in das politische Bewusstsein gerückt und damit die Bekämpfung von Infektionskrankheiten, zu denen auch die vernachlässigten und armutsassoziierten Tropenkrankheiten zählen.
Im aktuellen Koalitionsvertrag haben das Thema Globale Gesundheit und die Stärkung von Gesundheitssystemen in Ländern mit mittleren und niedrigen Einkommen sowie die Stärkung der Bereiche Forschung und Entwicklung bei der Bekämpfung von NTDs einen höheren Stellenwert erhalten. Deutschland setzt sich für die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele (engl. Sustainable Development Goals, SDGs) ein und will den Reformprozess bei der WHO aktiv unterstützen. Sowohl innerhalb der SDGs als auch bei der WHO spielen dabei die NTDs eine wichtige Rolle.
In einer Studie des Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) mit dem Titel "Eine Einschätzung des Beitrags deutscher Institutionen bei der Forschung zu Vernachlässigten Tropenkrankheiten", die unter meiner Mitwirkung und der weiterer 34 Kollegen und Kolleginnen aus Deutschland in den Jahren 2017 und 2018 erstellt wurde, wird der Beitrag deutscher Institutionen bei der Forschung zu NTDs ausführlich beschrieben.
Welche Rolle spielt Baden-Württemberg in Bezug auf die Erforschung und Bekämpfung von NTDs im nationalen Vergleich?
Baden-Württemberg ist ein wichtiger Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort in Deutschland. Laut der erwähnten Studie sind in Baden-Württemberg im akademischen und außeruniversitären Bereich folgende Standorte im Bereich der Erforschung vernachlässigter Erkrankungen aktiv (alphabetisch): Bad Mergentheim, Baden-Baden, Freiburg, Frickenhausen, Heidelberg, Karlsruhe, Konstanz, Ludwigsburg, Mannheim, Pforzheim, Rohrdorf, Stuttgart, Tübingen, Ulm, Villingen-Schwenningen und Wangen.
Bei der Analyse der Publikationsleistungen aller deutscher Forschungseinrichtungen zu NTDs innerhalb der letzten fünf Jahre (2013-2017) rangierten die baden-württembergischen Standorte zusammengenommen an erster Stelle. Dabei sind die Universität und das Universitätsklinikum Tübingen gemeinsam mit der Universität und dem Universitätsklinikum Heidelberg mit großem Abstand bei den wissenschaftlichen Publikationen führend, gefolgt von Ulm, Freiburg, Stuttgart und Karlsruhe. Thematisch befassen sich diese Standorte mit dem gesamten Spektrum der NTDs.
Wo sehen Sie positive Entwicklungen in Deutschland und in Baden-Württemberg in Bezug auf die Erforschung und Bekämpfung von NTDs und wo besteht noch Entwicklungspotenzial?
Die Studie zur Forschungslandschaft Deutschlands bei der Bekämpfung von NTDs weist darauf hin, dass der dringende Bedarf an Forschung und Entwicklung als wesentlicher Bestandteil der Bekämpfung von NTDs von der Bundesregierung erkannt wurde. Im Gegensatz zur Grundlagenforschung sind die translationale Forschung sowie die Forschung zur Kontrolle und Behandlung von NTDs bisher unterrepräsentiert. Dies betrifft besonders die Wirkstoff-, Impfstoff- und Diagnostikentwicklung sowie die Erforschung besserer Einsatzmöglichkeiten von Medikamenten und innovativer Technologien. Dabei sollte die wissenschaftliche Vernetzung und Koordination vermehrt gefördert werden. Es sind zudem integrative und interdisziplinäre Ansätze erforderlich, um innovative One-Health-Forschungsansätze zu entwickeln, also die enge Vernetzung von human- und veterinärmedizinischer Forschung sowie der biomedizinischen Grundlagenforschung im Bereich der Infektionserkrankungen.
Zudem ist es wichtig, dass die theoretisch verfügbaren Interventionsmaßnahmen die Patienten auch erreichen – das ist in vielen armen Ländern eine große organisatorische und logistische Herausforderung.
Auf politischer Ebene fehlt es noch an ausreichender Prioritätensetzung und an entsprechenden Fördermöglichkeiten. Eine politische Führungsrolle mit Hinblick auf die NTD-Bekämpfung kann nur entstehen, wenn es eine umfassende nationale Strategie zur Förderung von NTD-Forschung gibt. Diese Strategie müsste auf bestehenden nationalen Strukturen aufbauen, die Forschungsaktivitäten in Deutschland integrieren und internationale Kooperationen fördern.
Ein wichtiger Schritt, um auf die Bekämpfung von NTDs in der deutschen Öffentlichkeit aufmerksam zu machen, ist es, die zentrale Bedeutung der NTDs innerhalb der SDGs zu verdeutlichen. Die Bekämpfung der NTDs ist dort explizit im dritten Ziel „Gesundheit und Wohlergehen“ erwähnt. Es zeigt sich schon jetzt, dass, wenn die NTDs nicht eliminiert werden, keines der SDGs wirklich erreicht werden kann.
Welche Aufgabe hat das Kompetenzzentrum Tropenmedizin Baden-Württemberg in Bezug auf die Erforschung und Bekämpfung von NTDs und wo liegen die Schwerpunkte des Kompetenzzentrums?
Das Institut für Tropenmedizin, Reisemedizin und Humanparasitologie (ITM) der Universität und des Universitätsklinikums Tübingen wurde auf Empfehlung der Medizinstrukturkommission des Landes Baden-Württemberg 2007 zum Kompetenzzentrum für Tropenmedizin ernannt. Damit hat das ITM die anspruchsvolle Aufgabe übernommen darauf hinzuwirken, dass entscheidende Impulse innerhalb der Fachbereiche Tropenmedizin, Humanparasitologie und Reisemedizin in Forschung, Lehre und Krankenversorgung nach Baden-Württemberg, deutschlandweit und international ausgehen.
Die enge Verzahnung von medizinischer Grundlagenforschung und angewandter klinischer Forschung zeichnet das ITM deutschlandweit und international aus. Unser Institut unterhält Forschungs- und Lehrkooperationen auf dem Gebiet der NTDs, vor allem mit Partnern in Gabun, wie auch in Kongo, Togo, Benin, Nigeria, Indien, Vietnam und Brasilien.
Der Schwerpunkt unserer Forschungstätigkeit und der unseres Haupt-Partnerinstituts Centre de Recherches Médicales de Lambaréné (CERMEL) in Gabun liegt auf der Entwicklung von Malariamedikamenten und Malariaimpfstoffen sowie auf der Entwicklung von Diagnostika, Impfstoffen und Medikamenten gegen NTDs. Insgesamt konnten wir über 100 klinische Medikamenten- und Impfstoffstudien zu Malaria, Tuberkulose und vernachlässigten Tropenkrankheiten wie Bilharziose, Hakenwürmer und andere Wurmerkrankungen durchführen.
Wir erforschen zum Beispiel, welchen Effekt eine Wurminfektion bei gleichzeitiger Impfung auf den Impfschutz hat oder wie sich eine Wurminfektion während der Schwangerschaft auf das Immunsystem des Kindes auswirken kann. Diesbezüglich ist die Entwicklung und Verbesserung von Diagnostika für tropische Infektionskrankheiten wichtig. Es kommt recht häufig vor, dass die Menschen von mehreren Parasiten gleichzeitig infiziert sind. Ein Test, mit dem möglichst viele Parasiten in einer einzigen Blutprobe entdeckt werden können, wäre sehr hilfreich.
In Togo sind wir seit 40 Jahren beim Onchozerkose Kontrollprogramm vor Ort mit dabei. Zudem forschen wir an der alveolären Echinokokkose (AE) des Menschen, eine der am schwersten zu diagnostizierenden zoonotischen Helminthen-Erkrankung, die durch Infektion mit dem Fuchsbandwurm Echinococcus multilocularis verursacht wird.
Biomedizinische Grundlagenforschung betreibt das ITM im Bereich der NTDs Lepra, Dengue, Leishmaniose und bei Chagas in Kooperation mit Partnern in Indien, Vietnam, Äthiopien und Brasilien.
Welche Handlungsempfehlungen geben Sie Deutschland und Baden-Württemberg in Bezug auf die Bekämpfung von NTDs?
Das Problem muss auf politischer Ebene und parallel dazu auf Forschungsebene vorangetrieben werden – nicht nur auf Bundesebene, sondern unbedingt gemeinsam mit allen Bundesländern.
Im politischen Kontext brachte es Bundespräsident a.D. Prof. Dr. Horst Köhler bei seiner Rede 2013 an der Universität Tübingen „Globale Partnerschaft – Gedanken zu einem neuen Leitmotiv der internationalen Politik“ auf den Punkt, indem er vor allem die Bekämpfung von Armut, die Verbesserung des Gesundheitsniveaus und der Schulbildung forderte.
Bei der Bekämpfung von NTDs muss sich die Bundesregierung in enger Absprache mit den Bundesländern messbare Ziele setzen und konkrete mehrjährige Förderzusagen treffen. Hier sind alle Resorts – am besten innerhalb einer gemeinsamen Strategie – gefragt. In den deutschen Forschungs-Institutionen mit Bundesbeteiligung sollte die Erforschung der NTDs verlässlich verankert und besonders gefördert werden.
Die einzelnen Forschungsministerien der Bundesländer sollten sich in dieser gemeinsamen Strategie mit einklinken. Die größte Forschungsexpertise in Deutschland ist weiterhin in der Gesamtheit der Universitäten der Länder verortet und wird von diesen finanziert. Hier sollte sowohl bei der Grundlagenforschung als auch bei der klinisch-angewandten Forschung zu NTDs durch die Schaffung neuer Verbünde eine verstärkt finanzielle wie auch strukturelle Förderung ansetzen. Zudem sollten die wenigen verbliebenen Lehrstühle im Bereich der Tropenmedizin und Parasitologie in der universitären Forschungslandschaft zwingend erhalten und ausgebaut werden, um hinreichende Forschungskapazitäten an den deutschen Universitäten für diesen Themenbereich vorzuhalten.
Entwicklungspolitik geht dabei nicht nur auf Bundesebene vonstatten, sondern ist vor allem stark auf der Ebene der Bundesländer verankert. Genau hier gibt es viele Partnerschaften mit Ländern, in denen NTDs vorkommen: auf Länderebene, kommunaler Ebene und spezifisch auch durch Kooperationen zwischen verschiedenen Institutionen. Diese bereits bestehenden Verbindungen für die der NTD-Bekämpfung zu nutzen und damit den vernachlässigten Menschen in diesen Regionen vor Ort zum Wohle zu dienen, ist ein gerade erst entdecktes und noch nicht ausgeschöpftes Potenzial unserer Republik. Alleingänge zu vermeiden und gemeinsam voranzugehen, ist die Herausforderung, vor der wir im Moment stehen.
Das Interview mit Dr. Dr. Carsten Köhler ist das erste aus einer Reihe zu dem Thema "Vernachlässigte Tropenkrankheiten". Die Interviews wurden mit Experten aus den Bereichen Gesundheit, Wissenschaft und Wirtschaft geführt, die an der Veranstaltung "Vernachlässigte Tropenkrankheiten – Impulse aus Baden-Württemberg" am 7. Februar in Stuttgart teilgenommen hatten. Weitere Interviews folgen.