Teil 2 der Experteninterviews
Vernachlässigte Tropenkrankheiten – Gisela Schneider: die Krankheitslast
„Leaving no one behind“. Das Leitmotiv der 2015 von den Vereinten Nationen (UN) unterzeichneten Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung macht deutlich, dass die Bekämpfung von Armut und ihren Folgen einen wesentlichen Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung darstellt. Der Kampf gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten (Neglected Tropical Diseases, NTDs), zwanzig von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gelistete armutsassoziierte Infektionskrankheiten, wird in den Sustainable Development Goals (SDGs) der Agenda als klares Ziel definiert. Warum NTDs vor allem die Ärmsten der Welt betreffen und unter welcher Krankheitslast die Betroffenen leiden, erklärt Dr. Gisela Schneider, Direktorin des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission e. V. (Difäm), im Interview mit Sarah Triller.
Warum sind vor allem arme Bevölkerungsgruppen von NTDs betroffen?
Viele NTDs werden den klassischen Tropenkrankheiten zugeordnet, das heißt, sie werden von Erregern verursacht, die sich in einem feuchtwarmen Klima besonders gut ausbreiten. Hinzu kommt, dass in diesen Regionen sehr viele Menschen arm sind und sich oft weder ausreichende und gesunde Nahrungsmittel leisten können noch einen Zugang zu sauberem Wasser oder sicheren Sanitäranlagen haben. Das wiederum führt dazu, dass ihr Immunsystem geschwächt ist, sie gleichzeitig vielen Erregern ausgesetzt sind und sie wenig Möglichkeiten haben, Krankheiten abzuwehren oder sich krankheitsvorbeugend zu verhalten.
Zudem kümmert sich die Regierung in vielen betroffenen Ländern wenig um diese vernachlässigten Regionen, und so verstärkt sich der Kreislauf von Armut und Krankheit. Die Menschen haben keinen Zugang zu Bildung und damit auch nicht zur Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung.
Es ist also ein sehr komplexes Geschehen, das NTDs begünstigt. Daher müssen NTDs auf vielen Ebenen bekämpft werden. Neben allen medizinischen und technischen Interventionen ist die Bekämpfung von NTDs immer auch ein Kampf gegen Armut und für mehr Gerechtigkeit.
Vernachlässigte Tropenkrankheiten sind zwanzig, von der Weltgesundheitsorganisation gelistete armutsassoziierte Infektionskrankheiten, die, trotz ihrer Bedeutsamkeit, in ihrer Erforschung und Bekämpfung vernachlässigt werden: Buruli-Ulkus, Amerikanische Trypanosomiasis (Chagas-Krankheit), Dengue- und Chikungunya-Fieber, Dracunculose (Medinawurm), Echinokokkose (Hunde- und Fuchsbandwurm), Trematoden, Afrikanische Trypanosomiasis (Schlafkrankheit), Leishmaniose, Lepra, Lymphatische Filariose (Elephantiasis), Myzetom/Chromoblastomykose und weitere Weichteilmykosen, Onchozerkose (Flussblindheit), Rabies (Tollwut), Scabies (Krätze) und weitere Ektoparasiten, Schistosomiasis (Bilharziose), Boden-übertragene Wurmerkrankungen, Schlangenbiss-Vergiftungen, Zystizerkose/Taeniasis (Schweinebandwurm-Infektion des Darmes und zentralen Nervensystems), Trachom (ägyptische Körnerkrankheit), Frambösie (Yaws).
Die parasitären, bakteriellen und viralen Erkrankungen treten überwiegend in tropischen und subtropischen Ländern auf und betreffen vor allem die ärmsten Bevölkerungsschichten. Weltweit leiden mehr als eine Milliarde Menschen in über 100 Ländern an einer oder mehreren NTDs. Die Folgen reichen von dauerhaften Behinderungen, Ausgrenzung und Stigmatisierung bis hin zum Tod.
Viele Betroffene leiden nicht nur unter einer, sondern unter mehreren NTDs. Wieso kommt es so häufig zu einer Multimorbidität?
Weil Armut multidimensional ist. Wenn jemand beispielsweise wegen mangelhafter Ernährung immungeschwächt ist, kann sich sein Körper gegen keine der Erkrankungen wehren. Die unterschiedlichen Erreger existieren im täglichen Lebensumfeld, wie zum Beispiel Würmer, die über Nahrungsmittel aufgenommen werden, oder solche Erreger, die über Stiche oder das Gehen ohne Schuhwerk übertragen werden. So kommt es sehr häufig zu Mehrfacherkrankungen, die meist chronisch verlaufen und oft erst spät, nämlich an ihren Komplikationen, erkannt werden. Dazu gehören beispielsweise Wachstumsstörungen von Kindern, die durch chronischen Wurmbefall verursacht werden können, Menschen, die eine Elephantiasis entwickeln und damit ausgegrenzt werden, oder die Konsequenzen der Zerstörung von Nervenzellen bei einer Lepra, die zu Entstellungen führen kann, um nur einige Beispiele zu nennen.
Welche Bedeutung haben Komorbiditäten für die Bekämpfung der NTDs?
Menschen, die mehrere Erkrankungen haben, sind oft geschwächt, und die Heilung und Regeneration dauern lange. Die Diagnose kann erschwert sein, und manchmal werden nur eine oder zwei Krankheiten erkannt und der Rest bleibt unbehandelt. Zudem kann es zu Wechselwirkungen zwischen Medikamenten kommen.
Daher ist es wichtig, dass die Behandlung von NTDs systematisch erfolgt und in das lokale Gesundheitssystem integriert wird, zum Beispiel in die Leitlinien von Vorsorgeuntersuchungen von Kindern oder Schwangeren. Daneben ist es wichtig, dass die allgemeine Bevölkerung in die Bekämpfung von NTDs einbezogen wird.
Am wichtigsten aber ist es, die Determinanten der Krankheit zu erkennen und diese zu bekämpfen. So ist zum Beispiel gutes Schuhwerk dort notwendig, wo es zu einer Podokoniose kommen kann, ein durch das Eindringen von Silikaten in die intakte Haut verursachtes Lymphödem, das zur Elephantiasis führt. Ebenso wichtig ist es, die Ernährung zu verbessern, damit Kinder gesund aufwachsen. Dabei geht es um die Verbesserung der Quantität („genug essen“), aber vor allem um die Verbesserung der Qualität („gesundes Essen“). Genauso wichtig ist die Verbesserung von Bildung insbesondere bei Frauen und Mädchen. Sie müssen über die möglichen Gefahren einer Infektion und entsprechende Präventionsmaßnahmen informiert werden. Zudem benötigen sie die notwendigen Mittel Vorsorge betreiben zu können.
Welche Ziele hat das Difäm bei der Bekämpfung von NTDs, und wie können diese erreicht werden?
Die Bekämpfung von NTDs ist Teil all unserer Gesundheitsprogramme. Gemeinsam mit unseren lokalen Partnern arbeiten wir daran, den Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung insbesondere für arme Menschen zu ermöglichen, und zwar so, dass diese nicht nur Medikamente bekommen, sondern auch die notwendigen Informationen zur Prävention und für eine erfolgreiche Behandlung.
Die Stärkung einer adäquaten Ernährung und ein besserer Zugang zu Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygiene (Water, Sanitation & Hygiene, WASH) spielen in unseren Projekten eine zentrale Rolle, genauso die Gesundheitserziehung.
Dabei muss man in jedem Land und im jeweiligen Umfeld wissen, welche NTDs besonders wichtig sind: zum Beispiel Wurmerkrankungen, das Trachom, eine chronische Infektion der Augenlider oder Filarien etc. Das Gesundheitspersonal muss entsprechend ausgebildet sein, diese Erkrankungen zu erkennen und dann auch behandeln zu können. Für die Behandlung von NTDs gibt es in den betroffenen Ländern meist entsprechende Leitlinien. Hierfür müssen dann die entsprechenden Medikamente bzw. Diagnostika zur Verfügung gestellt werden. Es ist also ein sehr komplexer Prozess, um NTDs vor Ort zu behandeln und Neuinfektionen zu verhindern.
Als Difäm versuchen wir, die Gemeinden vor Ort miteinzubeziehen. So haben wir in Malawi ein Basisgesundheitsprogramm, in dem jede Familie Zugang zu einer Toilette erhalten soll. Diese wird von den Menschen in den Dörfern nach entsprechenden Richtlinien gebaut, wodurch die Infektionsgefahr reduziert wird. In Äthiopien haben wir mit Partnern vor Ort Freiwillige in Gemeinden ausgebildet, die Menschen mit Podokoniose geholfen haben. Ziel war es, durch entsprechendes Schuhwerk das Eindringen von Silikaten in die Haut zu verhindern und die Menschen durch Fußwaschungen vor Infektionen zu schützen.
Viele Menschen, die an NTDs erkrankt sind, leiden dazu häufig unter einem Stigma, weil sie oft entstellt sind und mit Behinderungen leben müssen. Auch die Stigmatisierung gilt es zu bekämpfen und die Würde von Menschen wiederherzustellen. Durch entsprechende Aufklärung muss dafür gesorgt werden, dass Menschen nicht diskriminiert werden.
Die Bekämpfung von NTDs erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, einen langen Atem und die Partizipation aller Beteiligten. Nur dann kann die Bekämpfung von NTDs wirklich gelingen.
Das Interview mit Dr. Gisela Schneider ist das zweite aus einer Reihe zu dem Thema "Vernachlässigte Tropenkrankheiten". Die Interviews wurden mit Experten aus den Bereichen Gesundheit, Wissenschaft und Wirtschaft geführt, die an der Veranstaltung "Vernachlässigte Tropenkrankheiten – Impulse aus Baden-Württemberg" am 7. Februar in Stuttgart teilgenommen hatten. Weitere Interviews folgen.