Wie können Pflegestrukturen von der Digitalisierung profitieren?
Im Pilotprojekt NeCTra (Networking – Care – Transparency) wird untersucht, wie Versorgungsprozesse der Pflege innerhalb eines städtischen Sozialraums mithilfe von digitalen Technologien verbessert werden können. Alle Partner und Einrichtungen sollen möglichst in Echtzeit miteinander vernetzt werden, damit Pflegebedürftige und Ratsuchende schneller die passende Unterstützung bekommen.
Weil der Stadt ist mit seinen rund 20.000 Einwohnern genau das richtige „Untersuchungsobjekt“, um moderne, digital vernetzte Strukturen zur Verbesserung der Pflegeversorgung zu erproben. Die Stadt ist groß genug, um genügend vielfältige Pflege-Partner aufzuweisen. Mit ihrem überschaubaren Sozialraum ist sie aber noch nicht zu groß für den Rahmen eines Pilotprojekts. Fünf Projektpartner aus der Pflege und Altenhilfe erkunden hier seit Dezember 2017, wie mithilfe der Digitalisierung mehr Transparenz ins lokale Versorgungssystem gebracht werden kann. Der einzelne Rat- und Hilfesuchende soll so schneller zu den richtigen Ansprechpartnern kommen und diese sollen schneller eine passende Lösung finden. Schlussendlich profitiert davon das gesamte Sozialsystem, denn durch weniger Wartezeiten und Fehlvermittlungen lassen sich Kosten senken.
Das Konzept überzeugte das Auswahlgremium des Förderprogramms „Digitalisierung in Medizin und Pflege“ beim Landesministerium für Soziales und Integration. Mit rund 200.000 Euro fördert das Land drei Jahre lang das Projekt. Die restlichen Kosten werden von den Kooperationspartnern selbst getragen. Die Projektleitung hat das Entwicklungszentrum Gut altwerden aus Sindelfingen. Martin Weweler ist hier einer der Projektleiter. Zugleich begleitet er aus seiner zweiten Funktion als Geschäftsführer der Sozialstation Weil der Stadt heraus das Projekt auch operativ.
„Als ambulanter Pflegedienst betreut die Sozialstation monatlich rund 250 Personen in allen Teilorten und vereinzelt auch in Grafenau“, so Weweler. Grafenau ist eine kleine Nachbargemeinde, die mit Weil der Stadt gut vernetzt ist. Hier ist auch das Zentrum für Senioren und Begegnung Adrienne von Bülow angesiedelt. Es ist eines von drei Häusern der Keppler-Stiftung, die wie die Sozialstation als Umsetzungspartner mit im Boot ist. Die anderen beiden Stiftungseinrichtungen sind das Seniorenzentrum Bürgerheim in Weil der Stadt und das Seniorenzentrum Haus Michael in Weil der Stadt - Merklingen. „Alle drei Häuser haben eine vollstationäre Versorgung und verfügen zudem über betreute Wohnanlagen. Dabei handelt es sich im Prinzip um Privatwohnungen mit Betreuungsverträgen“, erklärt Weweler. Im Bürgerheim werden zudem etwa 25 Personen pro Woche in der Tagespflege versorgt.
Transparenz und schnelle Hilfe erhöhen die Versorgungssicherheit
Damit ist verteilt über mehrere Standorte das ganze Spektrum an Pflegekonzepten im Projekt vertreten. Hinzu kommt die Beratungsstelle Weil der Stadt, die zur Sozialstation gehört und von der Stadt und einem Förderverein finanziell unterstützt wird. Sie berät niedrigschwellig zum Thema Pflege und älter werden. „2018 hatten wir hier schon rund 320 Beratungsgespräche und die Zahl steigt kontinuierlich“, so Weweler. Die Kunden bekommen hier Erstinformationen und werden individuell an die richtigen Partner für ihr Anliegen weitervermittelt. Damit spielt die Beratungsstelle auch eine wichtige Rolle im Projekt und soll unter anderem als Intermediär weiter ausgebaut werden.
Wenn hier die digitalen Weichen richtig gestellt werden, kommen die Beratungskunden im Idealfall ohne Zeitverzug und Rückfragen in Kontakt mit der passenden Einrichtung oder dem passenden Angebot. Umgekehrt sollen die Pflegepartner über die digitale Vernetzung jederzeit – am besten in Echtzeit, wie Weweler betont – ihre Kapazitäten und aktuellen Dienstleistungsangebote untereinander und an die Sozialstation weitergeben.
„Die grundlegende Projektidee ist, einem Kunden, der irgendwo andockt mit seinem Problem, schnell eine maßgeschneiderte Lösung anzubieten. Die digitale Vernetzung soll auch dazu beitragen, eine gewisse Betriebsblindheit zu überwinden, die dazu führt, dass nur angeboten wird, was die jeweilige Einrichtung leistet“, so Weweler. Als wichtigen ergänzenden Aspekt nennt er das Entlassmanagement aus den Krankenhäusern. Hier mit digitaler Unterstützung eine bessere Kommunikation und Transparenz zu schaffen, kann mittelfristig ein weiterer Baustein von NeCTra werden. „Wir erhoffen uns davon, die Patienten schneller in die passende Anschlussversorgung vermitteln zu können.“
Technisch greift das Projektteam größtenteils auf bestehende Hardware zurück, die bei den Partnern bereits im Einsatz sind. Die richtige Software zu finden und weiterzuentwickeln, stellte sich jedoch als größeres Problem dar als vermutet. „Die zunächst angedachte Plattformlösung hat sich als nicht zielführend erwiesen. Vor allem die Anforderungen an die Schnittstellen ließen sich in dem zur Verfügung stehenden Zeit- und Kostenumfang nicht lösen. Mit der Firma SWING aus Freiburg haben wir dann den richtigen Software-Partner gefunden. Sie haben bereits Lösungen für den Pflegesektor entwickelt und bieten vieles von dem an, was wir benötigen“, sagt Weweler. Inzwischen laufen die ersten Software-Applikationen bereits. „Als erste Maßnahme haben wir FAQs bei der Beratungsstelle installiert. Wir haben sie aufgrund statistischer Erfassungen der häufigsten Fragen entwickelt. Was ist ein Pflegegrad? Was ist der Unterschied zwischen Pflegesachleistung und Pflegegeld? Das sind typische Fragen, die mit aufgenommen wurden. Gerade vonseiten der Angehörigen haben wir mit dieser niedrigschwelligen Maßnahme sehr positives Feedback bekommen“, so Weweler.
Digitalisierung soll Angehörige und Kunden sowie die Pflegekräfte entlasten
Dass die Angehörigen hier im Fokus stehen, hat seinen Grund. Denn die Pflegebedürftigen selbst sind aufgrund ihres durchschnittlich hohen Alters häufig nicht digital unterwegs, so die Erfahrung des Teams. „Wir akzeptieren, dass sich viele alte Menschen nicht in digitale Sphären hineinbegeben wollen und können. Deshalb haben wir uns für Mechanismen entschieden, die den Kunden (noch) nicht direkt betreffen. Sie sollen einfach nur merken, dass ihnen schnell geholfen wird“, betont Weweler. Aufseiten der Pflegepartner seien das Interesse und Verständnis dafür, was technisch hinter den Kulissen passiert, recht unterschiedlich. Entsprechend aufwendig war es, die gemeinsamen Anforderungen zu formulieren. Als beratender Projektpartner war dabei die IT4Change AG aus dem schweizerischen Herisau beteiligt. „Alle Projektpartner haben mittlerweile viel gelernt, man geht permanent aufeinander zu und entwickelt neue, gemeinsame Perspektiven“, meint Weweler.
Wie gut das Ganze in der Praxis tatsächlich funktioniert, untersucht als weiterer Projektpartner die Katholische Hochschule Freiburg. „Wir haben die Hochschule bereits sehr früh in unsere Überlegungen einbezogen. Sie hat uns zum Beispiel dabei beraten, wie die Beratungsstelle statistisch ausgewertet werden kann“, so Weweler. Zudem führt die Hochschule Fokusgruppen-Interviews durch, um noch während des Projektverlaufs an manchen Stellschrauben drehen zu können. Dabei werden Angehörige ebenso gehört wie Entscheidungsträger im Projekt und Pflegedienstleitungen. Es geht auch darum, welche Erwartungen bereits erfüllt wurden und wo eventuell noch nachgebessert werden muss. Die Gesamtevaluation Ende 2019 liegt dann ebenfalls bei der Hochschule. Ein besonders positiver Effekt stellt sich laut Weweler bereits jetzt ein – einfach dadurch, dass es das Projekt überhaupt gibt: „Alle Partner, die mit im Boot sind, haben sich zwangsläufig damit auseinandergesetzt, was die jeweils anderen Partner machen und sich aufeinander zubewegt. Dadurch wird ganzheitlicher für den Sozialraum gedacht und der Ratsuchende zielgerichteter und seinen Bedürfnissen entsprechend vermittelt und unterstützt.“