Chemische Werkzeuge für biologische Anwendungen
Die Grenzen zwischen den traditionellen Fachbereichen verschwimmen in den modernen Naturwissenschaften immer mehr. Oft ist interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig, um komplexe Prozesse oder biomolekulare Fragestellungen zu untersuchen. Das ist auch der zentrale Aspekt der sogenannten Chemischen Biologie, die die Anwendung chemischer Stoffe, Methoden und Werkzeuge auf biologische Systeme und Fragestellungen beinhaltet. Die Möglichkeiten reichen dabei von der chemischen Synthese von biologisch wirksamen Stoffen bis hin zur gezielten chemischen Modifikation von Biomolekülen.
Die ganzheitliche Herangehensweise der Chemischen Biologie bietet im Bereich der Grundlagenforschung neue Ansätze, um biologische Vorgänge auf chemischer Ebene zu manipulieren und zu untersuchen. Dabei kommen häufig niedermolekulare Verbindungen, sogenannte „small molecules“ zum Einsatz, die mit Hilfe der Synthetischen Chemie gezielt designt oder in biochemischen und zellbasierten Screenings von großen Moleküldatenbanken identifiziert werden.
Die Molekülwerkzeuge können vielfältige Wirkungen auf Zellen und Proteine haben, beispielsweise spezifisch an aktive Proteine binden und so deren Aktivität nachweisen, die chemischen Eigenschaften eines Proteins verändern oder seine Lokalisation sichtbar machen. Sie können sowohl in vitro als auch in vivo eingesetzt werden und zeichnen sich vor allem durch ihre schnelle und oft reversible Wirkung aus, die eine langwierige Vorbereitung wie bei RNAi oder der genetischen Manipulation von Zellen überflüssig macht (s. Artikel „Chemische Werkzeuge für die Zellteilungsforschung“).
Solche funktionalen Moleküle sind natürlich auch für die Pharmaforschung sehr interessant. Eine Substanz, die sich in der Grundlagenforschung als Inhibitor für ein bestimmtes Zellteilungsprotein herausstellt, kann sich beispielsweise als potenzielles Krebstherapeutikum eignen, wenn das betreffende Protein in die Tumorentstehung involviert ist. Die Chemische Biologie hat damit auch eine große wirtschaftliche Relevanz.
Maßgeschneiderte Protein-Bausteine
Ein weiteres Werkzeug der Chemischen Biologie sind die sogenannten nicht-natürlichen bzw. künstlichen Aminosäuren. Im Gegensatz zu den 20 kanonischen Aminosäuren, aus denen Proteine normalerweise aufgebaut werden, kommen diese künstlichen Aminosäuren in der Natur nicht vor, sondern werden im Labor erzeugt. Sie können dabei mit bestimmten chemischen Funktionen ausgestattet werden, beispielsweise einer Fluoreszenz-Markierung oder funktionellen Seitenketten, die sich mit anderen Molekülen verknüpfen lassen. Das macht sie zu einer Art Universalwerkzeug für Protein-Engineering, mit dem die vorhandenen Eigenschaften eines Proteins verändert und verbessert oder ganz neue Funktionen eingeführt werden können (s. Artikel „Marina Rubini erforscht mit Leidenschaft Proteinfaltung und -design“).
Meist werden zur Expression der künstlichen Aminosäuren Bakterien verwendet. Da es keine natürlichen Basentripletts gibt, die für diese Aminosäuren codieren, muss zuerst der genetische Code der Bakterien erweitert werden, um sie in die natürliche Proteinbiosynthese einzuschleusen. Das ist beispielsweise über die gezielte Unterdrückung eines Stopcodons in der mRNA möglich, sodass das entsprechende Basentriplett nicht das Ende der Proteintranslation bewirkt, sondern als Signal für den Einbau der gewünschten Aminosäure dient.
Um das zu ermöglichen, muss außer der künstlichen Aminosäure auch eine spezielle, passende Transfer-RNA (tRNA) als Adaptermolekül eingebracht werden, die den Einbau der Aminosäure am Ribosom vermittelt, sowie ihre zugehörige Aminoacyl-tRNA-Synthetase, die die tRNA mit der Aminosäure belädt. Durch Mutation der DNA-Sequenz können dann an den gewünschten Stellen Stopcodons erzeugt werden, sodass ein ortsspezifischer Einbau der nicht-kanonischen Aminosäure möglich ist (s. Artikel „Rotes Licht beleuchtet Regulationsmechanismen der Genexpression“).
Gezieltes Enzymdesign erzeugt neue Werkzeuge für die Biotechnologie
Enzyme sind zentraler Bestandteil vieler Laboranwendungen und biotechnologischer Methoden, da sie den Ablauf bestimmter chemischer Reaktionen in biologischen Systemen oder auch im Reagenzglas katalysieren und damit oft erst möglich machen. Molekularbiologische Standardmethoden wie die Polymerasekettenreaktion, die Klonierung oder Produktion rekombinanter Proteine sind nur Beispiele für die Vielzahl möglicher Anwendungen.
So vielfältig die theoretischen Einsatzmöglichkeiten auch sind, so waren sie in der Vergangenheit doch meist durch die natürliche Variation der Enzyme beschränkt. Diese funktionieren oft nur unter den richtigen äußeren Bedingungen, zum Beispiel einer bestimmten Temperatur, oder setzen nur ein bestimmtes Substrat um.
„Die Natur hat Polymerasen nicht für moderne Anwendungen zum Beispiel in der molekularen Diagnostik evolviert“, erklärt Andreas Marx, Professor für Organische Chemie / Zelluläre Chemie und Koordinator der Graduiertenschule Chemische Biologie an der Universität Konstanz (s. Artikel „Andreas Marx - „Chemische Biologie“ der DNA-Polymerasen“).
Mit Hilfe der Kombination von molekularbiologischen und chemischen Methoden ist die Entwicklung neuer Enzyme aber durchaus möglich. Durch Mutagenese und Selektion oder molekulare Modellierung werden dabei maßgeschneiderte Enzyme für neuartige Anwendungen entwickelt, die beispielsweise komplexe Syntheseprozesse gezielt und unproblematisch im Labor ermöglichen (s. Artikel „Von der Struktur zum Mechanismus“).
Interdisziplinäre Studiengänge für die Forscher der nächsten Generation
Nicht nur in der Forschung, auch in der akademischen Ausbildung wird diese neue Orientierung der Wissenschaft zunehmend berücksichtigt. So bieten bereits einzelne Hochschulen in Baden-Württemberg entsprechend spezialisierte Bachelor- und Master-Studiengänge an, wie beispielsweise „Chemische Biologie“ am Karlsruher Institut für Technologie oder „Life Science“ an der Universität Konstanz. In Konstanz bildet die Chemische Biologie sogar einen Forschungsschwerpunkt der Universität, mit eigener Graduiertenschule für die Doktorandenausbildung sowie einem eigenen Forschungsgebäude (s. Artikel „Neues Zentrum für „Chemische Biologie“ in Konstanz“ und „Interdisziplinarität schon bei der Betreuung“).