Die Gesundheitsbranche muss grüner werden
Weltweit kämpft der Gesundheitssektor mit den Folgen der Klimaerwärmung, ist aber fatalerweise selber für einen signifikanten Teil der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Untersuchungen zeigen, dass vor allem bei Krankenhäusern und Reha-Kliniken ein großes Einsparpotenzial besteht und diese ebenso wie die produzierende Industrie etablierte Abläufe grundlegend überarbeiten müssen.
In ihrem Ende 2019 veröffentlichten Bericht zum ökologischen Fußabdruck der Gesundheitsbranche kommt die Nichtregierungsorganisation Health Care Without Harm (HCWH) zu einem erschreckenden Ergebnis: Die Gesundheitswirtschaft ist für 4,4 Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich.1) Dies entspricht zwei Gigatonnen an CO2 und ist äquivalent zum jährlichen Ausstoß von 514 Kohlekraftwerken. Der Gesundheitssektor liegt damit noch vor der Luftfahrt. Die Länder der EU belegen nach den USA und China den 3. Platz, gemeinsam verursachen die ersten Drei mehr als die Hälfte der schädlichen Emissionen in diesem Bereich. Der Beitrag Deutschlands ist dabei mit einem Pro-Kopf-Ausstoß von 0,71 Tonnen CO2 2,5 Mal so hoch wie der weltweite Durchschnitt von 0,28 Tonnen und übersteigt auch den der EU (0,49 Tonnen) deutlich. Der Anteil der deutschen Gesundheitswirtschaft an der nationalen Gesamtemission liegt damit sogar bei 5,2 Prozent.
Die bisher einzigartige, auf WIOD- (World Input-Output Database) Daten von 2014 basierende Studie rüttelte weltweit den Gesundheitssektor wach. Sie offenbart, dass die Branche, die an vorderster Stelle die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren bekommt, selbst maßgeblich zum Problem beiträgt. Das Gesundheitswesen steht aktuell vor zwei Herausforderungen: Einerseits muss es die durch die globale Erderwärmung verstärkt auftretenden gesundheitlichen Probleme wie Herz- und Kreislauferkrankungen, Infektionskrankheiten oder Mangelernährung bewältigen. Andererseits muss es seiner ökologischen Verantwortung nachkommen. Letztere beinhaltet dabei nicht nur die Reduktion der energiebedingten CO2-Emissionen, sondern auch die Verringerung des Wasserverbrauchs, Vermeidung von Müll sowie die Verwendung von ressourcenschonenden Materialien.
Der europäische grüne Deal
All diese Maßnahmen sind Bestandteil des European Green Deal. Das von der Europäischen Kommission Ende 2019 vorgelegte Konzept zielt darauf ab, bis 2050 die Netto-Emission sämtlicher Treibhausgase in der Europäischen Union auf null zu reduzieren und so als erster Kontinent klimaneutral zu werden. Neben CO2 schließt dies Methan (CH4), Lachgas (N2O) sowie wasserstoffhaltige Fluorkohlenwasserstoffe, perfluorierte Kohlenwasserstoffe und Schwefelhexafluorid (SF6) ein. Der ambitionierte Plan soll wesentlich dazu beitragen, die Vorgabe des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015 zu erfüllen: die Beschränkung der weltweiten Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C, möglichst sogar unter 1,5 °C im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter.2) Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg dorthin ist die Absicht der 27 EU-Mitgliedstaaten, bis zum Jahr 2030 die Treibhausgas-Emission um 55 Prozent im Vergleich zum Wert von 1990 zu senken.
Die Ziele des Green Deal wurden 2021 im europäischen Klimaschutzgesetz verbindlich festgeschrieben und erfordern eine Umgestaltung aller Wirtschaftszweige sowie ein Umdenken auf verschiedensten Ebenen. Klimaneutralität in Kombination mit verstärktem Umweltschutz und ressourcenschonender Kreislaufwirtschaft sollen zu mehr Nachhaltigkeit führen, sodass nicht nur bessere und gesündere Lebensumstände, sondern auch zukunftsfähige Arbeitsplätze unter fairen Bedingungen entstehen.
Die deutsche Gesundheitswirtschaft beschäftigt etwa 7,4 Mio. Menschen und trägt mit einem Anteil von 12,1 Prozent (Stand 2020) wesentlich zum Bruttoinlandsprodukt bei.3) Der Großteil der Bruttowertschöpfung wird dabei von stationären und ambulanten Gesundheitsversorgern, Krankenversicherungen und Apotheken im dienstleistungsorientierten Bereich generiert. Der industrielle Sektor, also die Herstellung von Medizinprodukten, Arzneimitteln und medizinischen Geräten, der Handel mit ihnen sowie Forschung und Entwicklung, erwirtschaftet etwa ein Fünftel. Welchen Beitrag können die unterschiedlichen Akteure der Gesundheitswirtschaft zum Green Deal leisten?
Großes Einsparpotenzial im Klinikbetrieb
Zur Einhaltung der hohen hygienischen Standards in der Patientenversorgung und für den Betrieb werden in Kliniken enorme Mengen an Energie und Wasser eingesetzt. Pro Bett und Tag beträgt der durchschnittliche Wasserverbrauch in deutschen Krankenhäusern 300 – 600 l, das ist dreimal mehr als in Wohnhäusern.4) Des Weiteren benötigt ein Bett jährlich so viel Energie wie vier neue Einfamilienhäuser.5) Wo viel verbraucht wird, gibt es allerdings auch viel Einsparpotenzial. Viamedica, die gemeinnützige Stiftung für gesunde Medizin, hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, den Umweltschutz systematisch in der Medizin zu implementieren. Die Kampagne Klinergie 2020 beispielsweise informiert Kliniken über mögliche Einsparpotenziale im Energiebereich. Oft lassen sich durch eine energetische Potenzialanalyse und darauf abgestimmte Maßnahmen 30 - 40 Prozent der Energiekosten einsparen.6)
Grün in allen Bereichen
Auf internationaler Ebene hat HCWH bereits 2011 das Projekt Global Green and Healthy Hospitals initiiert, das weltweit Angehörige des Gesundheitswesens vernetzt und sich zehn Nachhaltigkeitsziele gesetzt hat.7) Neben der Reduktion von Wasser, Energie und Müll sollen auch nachhaltige Verpflegung von Patientinnen und Patienten sowie Beschäftigen, Substitution von giftigen Chemikalien, Sicherheit bei Arzneimitteln, verbesserte Mobilitätsstrategien sowie der Einkauf nachhaltiger Produkte erreicht werden. Das teilnehmende Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe nimmt in Deutschland eine Vorreiterrolle ein und will bis 2030 das erste Zero-Emission-Hospital in der Bundesrepublik werden.8)
Aber auch andere Kliniken setzen sich in immer größerem Umfang mit unterschiedlichen Schwerpunkten für Nachhaltigkeit ein, wie folgende Beispiele zeigen: Bereits seit 2013 schaltet das Universitätsklinikum Dresden die raumlufttechnischen (RLT) Anlagen in Operationssälen in operationsfreien Zeiten komplett ab und spart so pro OP-Saal und Jahr ca. 1.000 kWh.9) Die Klinik für Anästhesiologie der Kliniken des Landkreises Karlsruhe zeigte, dass der Ersatz des Narkosegases Desfluran, das einen 2.500-fach höheren Treibhauseffekt als CO2 besitzt, durch das weniger schädliche Sevofluran die Gesamtemission des Anästhesiebereichs um mehr als zwei Drittel senken konnte.10) In Essen führt die Universitätsmedizin eine Vielzahl an Projekten durch und beschreibt das Thema Nachhaltigkeit im Krankenhaus in dem im Mai 2022 erschienenen Buch „Green Hospital“.11)
Neben Strom- und Wasserverbrauch ist vor allem auch die Vermeidung von Müll ein wichtiges Thema. In Bereichen wie der Wundversorgung sind sterile Einmalprodukte unerlässlich, aber bereits bei der Durchführung von Operationen gibt es verschiedene Möglichkeiten. Im Jahr 2014 benutzten rund ein Drittel der Kliniken Einweginstrumente, dadurch entstanden etwa 8.000 Tonnen Müll.12) Mit steigender Tendenz, denn auf den ersten Blick erscheinen Einmalprodukte sogar wirtschaftlicher, da die erforderlichen Prozesse zur Wiederaufbereitung zeit- und personalintensiv sind. Bei genauerer Analyse wird dies allerdings häufig widerlegt, zudem spart der Einsatz von Mehrweginstrumenten aus Edelstahl auch kostbare Ressourcen wie Chrom. Eine Studie des Ludwig Fresenius Center for Health Care Management and Regulation der HHL Leipzig Graduate School of Management konnte zeigen, dass teilweise sogar die Mehrfachnutzung von Einmalprodukten möglich ist, was die Kosten enorm reduziert.13) Insbesondere im Stationsbetrieb lässt sich beispielsweise durch wiederverwendbare Nierenschalen, Waschschüsseln oder Arzneimittelbecher viel Müll vermeiden.
Die Grundlage für eine effiziente Strategie ist die Berechnung der eigenen Emissionen und Lokalisierung der verschiedenen Quellen. An diesem Punkt setzt das Universitätsklinikum Heidelberg an, das in seinem Projekt KliOL (Klimaschutz in Kliniken durch Optimierung der Lieferketten) einen Treibhausgasrechner für Krankenhäuser erstellt, der neben den direkt freigesetzten Emissionen (Scope 1) und den indirekten aus eingekaufter Energie (Scope 2) auch den Scope-3-Bereich einschließt. Dieser umfasst alle weiteren indirekten Emissionen, die entlang der Wertschöpfungskette entstehen und macht in Einrichtungen des Gesundheitswesens etwa 70 Prozent aus.1) Den Herstellern von Arzneimitteln und Medizinprodukten kommt somit eine entscheidende Rolle zu.
In Anbetracht der Tatsache, dass in Deutschland ca. 1.900 Krankenhäuser14) und 1.100 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen existieren15), sind diese Projekte nur ein Anfang. Da mit Einführung der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) auch Kliniken in Zukunft (voraussichtlich ab 2024) jährlich einen Nachhaltigkeitsbericht erstellen müssen16), wird das Thema immer präsenter in der Gesundheitswirtschaft, und nachhaltige Kriterien rücken bei Kaufentscheidungen von Produkten und Dienstleistungen stärker in den Fokus.
Hersteller zeigen Initiative
Bei den Herstellern von Medizinprodukten und Laborartikeln setzt deshalb inzwischen ein Umdenken ein. Ende 2021 hat der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed), der die Belange von mehr als 220 deutschen und internationalen Unternehmen der Branche vertritt, den Fachbereich Umwelt und Nachhaltigkeit (FBUN) konstituiert. Dieser wird sich in fünf Arbeitsgruppen mit den Themen Nachhaltigkeit, Chemie, Sterilisation, Kunststoff und Verpackung sowie Abfall und Entsorgung beschäftigen. Die Umstellung auf nachhaltige Materialien ist bei Medizinprodukten allerdings mit Schwierigkeiten verbunden.17) Jede Veränderung erfordert eine neue Zertifizierung, um sicherzustellen, dass Kriterien wie Biokompatibilität, Sterilität und Stabilität gegenüber thermischen und mechanischen Belastungen weiterhin erfüllt werden. Langfristig bietet nachhaltiges Handeln den Unternehmen aber einige Vorteile: Durch den Imagegewinn erhalten sie leichter Fördermittel, werden attraktiver für Bewerbende und können durch Recycling und Senkung des Energieverbrauchs Kosten sparen.
Unter dem Dach von Chemie3 setzen sich seit 2013 der Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI), die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) und der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) für Nachhaltigkeit in der chemisch-pharmazeutischen Industrie ein. Der Chemie3-Leitfaden „SDG-Navigator für Unternehmen der chemischen Industrie“ erläutert, wie Unternehmen einen Beitrag zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen leisten können. Des Weiteren entwickelt die Initiative derzeit einen Branchenstandard für nachhaltige Wertschöpfung, der praktische Tools und Hilfestellungen für die Unternehmen zur Erfüllung des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) bietet.18) Das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten tritt am 01.01.2023 in Kraft und betrifft alle Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten.
Viele namhafte Pharmakonzerne nutzen inzwischen erneuerbare Energien und achten auf den sorgsamen Umgang mit Ressourcen.19) Universitäten wie Freiburg und Mainz fördern bereits während des Pharmaziestudiums das Bewusstsein für Nachhaltigkeit, und der Bundesverband der Pharmaziestudierenden in Deutschland (BPhD) gründete kürzlich die Arbeitsgruppe Umwelt und Klima.20) Die Entstehung klimaneutraler Apotheken wird unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von der Unternehmensgruppe NOVENTI unterstützt.21)
Nachhaltiger Laborbetrieb
Die meisten der bisher genannten Punkte treffen ebenfalls auf den Laborbetrieb zu, sowohl in der Diagnostik als auch Forschung. Viele Proben müssen zwischen -20 und -80 °C gelagert werden, unterschiedlichste Geräte kommen zum Einsatz, steriles Arbeiten wird durch Lüftungsanlagen und Autoklavierprozesse gewährleistet, und Laborwasser benötigt eine erhöhte Reinheit. All dies erfordert viel Energie.22) Des Weiteren werden für die Untersuchungen große Mengen an Einmalprodukten aus Kunststoff verbraucht; eine Studie schätzte den weltweiten Plastikmüll im Jahr 2014 auf 5,5 Mio. Tonnen. Für die systematische Erfassung des Verbrauchs, das Identifizieren von Veränderungsmöglichkeiten und die erfolgreiche Umsetzung bietet beispielsweise die Nachhaltigkeitsberatung NIUB professionelle Unterstützung an. Aber auch immer mehr Hersteller informieren die Nutzer auf diesem Gebiet. Das seit 2018 in der EU vorhandene ACT-Label der unabhängigen, gemeinnützigen Organisation My Green Lab erleichtert die Suche nach nachhaltigen Laborartikeln. Es bewertet deren Umweltauswirkungen in den Bereichen Produktion, Gebrauch, Entsorgung sowie Verpackung und erstellt einen Environmental Impact Factor (Umwelt-Einflussfaktor) für jedes Produkt, quasi ein Nachhaltigkeitszertifikat. Denn aufgrund der Kontamination mit Probenmaterial ist die Wiederverwendung oder das Recycling bei vielen Utensilien schwierig. Eine laborübergreifende Nutzung von Geräten, Räumen und auch Chemikalienvorräten kann zusätzlich große Effekte erzielen.
Derzeit entsteht auf allen Ebenen und in jeder Branche ein neues Bewusstsein: Klimaschutz ist Gesundheitsschutz und nur gemeinsam lassen sich nachhaltige Effekte erzielen.