„Wir müssen dieses Jahrzehnt (das heißt 2010 - 2020) zu einem Jahrzehnt der Impfstoffe machen“, hatte Bill Gates auf dem Weltwirtschaftsgipfel 2010 erklärt. Damals galt die Impfstoffentwicklung für die Industrie als wenig attraktiv: Das ist ein „Cent-Markt“, hieß es im Jargon von Big Pharma – im Gegensatz zum „Dollar-Markt“ bei Biopharmazeutika oder neuartigen Krebsmedikamenten. Ohne die Finanzierung und Haftung durch Initiativen der öffentlichen Hand, der Wissenschaft und nicht-profitorientierter Organisationen wären Forschung und Entwicklung dringend benötigter Impfstoffe, etwa gegen Tuberkulose, Malaria, Ebola und andere Tropenkrankheiten, in den letzten Jahren nicht vorangekommen. CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations – in etwa: Koalition für Innovationen in der Epidemievorbeugung), die größte und wichtigste derartige Public-Private-Partnership wurde 2017 beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos formell lanciert. An ihr beteiligten sich die Bill & Melinda Gates-Stiftung, der Wellcome Trust und ein Konsortium der Nationen Deutschland, Japan und Norwegen, zu denen später auch die Europäische Union und Großbritannien stießen.
Der Ebola-Impfstoff
CEPI war unter dem Slogan „New vaccines for a safer world“ (Neue Impfstoffe für eine sicherere Welt) gegründet worden, und zwar als Reaktion auf den katastrophalen Ebola-Ausbruch 2014/2015 in den westafrikanischen Ländern Guinea, Sierra Leone und Liberia. Vereinzelte Ebola-Fälle waren auch in New York, London, Brüssel und Madrid aufgetreten, und die USA, die EU und die WHO hatten verspätet, ungenügend und unkoordiniert reagiert. Kanadischen Wissenschaftlern war es jedoch gelungen, einen rekombinanten Impfstoffkandidaten gegen die sehr oft tödlich verlaufende Infektion mit Zaire-Ebolaviren (ZEBOV) herzustellen. Er wurde im Tierversuch getestet und an ein kleines Biotech-Unternehmen auslizenziert, das ihn nach einer Phase-I-Studie an gesunden Probanden exklusiv an den US-Pharmariesen Merck weiter lizenzierte. Dieser Impfstoff bestand aus genetisch veränderten, vermehrungsfähigen Vesicular-Stomatitis-Viren (VSV). Das sind - wie Ebola - Einzelstrang-RNA-Viren, die aber für Menschen nicht pathogen sind. Durch Rekombination war bei dieser so genannten rVSV-ZEBOV-Vakzine das VSV-Hüllprotein durch das entsprechende Glykoprotein der Ebola-Virushülle ersetzt worden, wodurch eine neutralisierende Immunreaktion gegen ZEBOV ausgelöst wird. Mit Finanzierung durch die Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierung (Gavi, eine Non-Profit-Partnerschaft, die sich vor allem für die Impfung gegen vermeidbare lebensbedrohliche Krankheiten bei Kindern in Entwicklungsländern einsetzt) entwickelte Merck die rVSV-ZEBOV-Vakzine bis zur Marktzulassung. Die hohe Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffs zeigte sich bei der Massenimpfung gefährdeter Personen beim Ebola-Ausbruch 2018/2019 in der Demokratischen Republik Kongo. Das Wissen um die - durch Gavi finanzierte - Impfstoffentwicklung bleibt geistiges Eigentum des Pharmakonzerns und kann von niemandem sonst, der auch an einer rVSV-Vakzine arbeiten will, genutzt werden. Die Lizenzen zur Entwicklung entsprechender rekombinanter Impfstoffe gegen die eng mit ZEBOV verwandten, ebenso gefährlichen MARV (Marburg-Virus) und SUDV (Sudanvirus) gab Merck an die kanadische Gesundheitsbehörde zurück.
2020 - Ein neues Zeitalter für die Impfstoffentwicklung
Der große Ebola-Ausbruch von 2014/2015 war ein Warnzeichen gewesen für das, was auf die Welt bei einer globalen Pandemie mit einem neuen, gefährlichen Erreger zukommen könnte. Als sich dann mit SARS-CoV-2 Anfang 2020 von China aus tatsächlich die erste globale Pandemie des 21. Jahrhunderts ausbreitete, war bald klar, dass sich die einzig angemessenen Pläne für Gegenmaßnahmen in der Parole zusammenfassen lassen: die Krise abpuffern und durchhalten, bis präventive Impfungen für alle möglich sind. Ein beispielloser internationaler Wettlauf um Impfstoffe gegen das neuartige Coronavirus begann. Noch im März 2020 hatte die New York Times beklagt, dass „Big Pharma ein Hindernis bei der Impfstoffentwicklung“ darstellen könnte. Nun aber waren fast alle großen Pharmakonzerne bereit, in Allianz mit innovativen Biotech-Firmen, Forschungsinstituten oder Stiftungen Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 zu entwickeln und in Riesenmengen zu produzieren. Am 21. Februar 2021 zählte das Milken Institute, ein unabhängiger amerikanischer „Thinktank“, weltweit 251 Projekte mit SARS-CoV-2-Impfstoffkandidaten, für die alle heute verfügbaren Technologien eingesetzt werden. Sechzig Vakzine befinden sich in Klinischen Studien, und elf werden in verschiedenen Ländern bereits eingesetzt (siehe Tabelle; auch als Download in der Sidebar verfügbar).
Bis dahin hatte der Geschwindigkeitsrekord für eine Impfstoffentwicklung bis zur Zulassung bei vier Jahren gelegen; nämlich mit einer attenuierten (abgeschwächten) Lebendvakzine gegen Mumps in den 1960er Jahren. Am 10. Januar 2020 publizierten chinesische Wissenschaftler die Genomsequenz des neuen, aus Patienten in Wuhan isolierten Krankheitserregers, und unmittelbar darauf fingen Labors in aller Welt mit der Impfstoffentwicklung an. Nach nur elf Monaten Entwicklungszeit, einschließlich der Klinischen Studien, erhielt das Mainzer Biotech-Unternehmen BioNTech im Verbund mit dem amerikanischen Pharmagiganten Pfizer für seinen RNA-basierten Impfstoff am 21. Dezember 2020 die reguläre Zulassung durch die Europäische Arzneimittelbehörde EMA. Die nächsten in der EU zugelassenen Vakzine waren Anfang 2021 das ebenfalls RNA-basierte Produkt der US-Firma Moderna und kurz darauf der von der Universität Oxford zusammen mit AstraZeneca entwickelte Impfstoff, der ein abgeschwächtes, nicht vermehrungsfähiges Adenovirus als Vektor verwendet, um die Erbinformation für das Spike-Protein von SARS-CoV-2 in die menschlichen Zellen zu schleusen. Auf dem gleichen Prinzip beruht der vierte in der EU zugelassene Impfstoff von Janssen Pharma (das zum US-Konzern Johnson & Johnson gehört), der aber – im Gegensatz zu allen bisher genannten Impfstoffen - nur einmal gespritzt werden muss.
Um den Zeitraum für die Prüfungen zu verkürzen, hat die EMA ein Rolling-Review-Verfahren eingeführt. Danach kann für Impfstoffkandidaten mit noch laufender Klinischer Studie Phase III die Zulassung beantragt werden, und die in der Studie noch anfallenden Ergebnisse werden kontinuierlich überprüft. Auf diese Weise wird beispielsweise der proteinbasierte Kandidat der US-Firma Novavax geprüft. Hier wird dem menschlichen Immunsystem nicht ein vollständiges Virus präsentiert, sondern nur das Spike-Protein von SARS-CoV-2. Ebenfalls nach dem Rolling-Review-Verfahren geprüft und kurz vor der Zulassung (Stand Mitte März 2021) steht der Kandidat des Tübinger Biotech-Unternehmens CureVac (CVnCoV) - ein RNA-basierter Impfstoff wie von BioNTech und Moderna.
Triumph der RNA-Vakzine
RNA-Impfstoffe, die jetzt die vorderste Front in den Impfkampagnen gegen COVID-19 bilden, waren zuvor überhaupt noch nicht für eine Anwendung beim Menschen zugelassen worden. Die Idee ist nicht ganz neu, RNA-Moleküle, die eine Antigen-codierende Sequenz tragen, mithilfe von Lipid-Nanopartikeln in die Zellen zu schleusen, wo die zelleigene Maschinerie die Sequenz in die Antigenproteine übersetzt, die dann eine Immunantwort auslösen (siehe Abb. 2), doch lag der Forschungsschwerpunkt früher auf Krebstherapien, nicht auf Impfstoffentwicklungen.
Der Hauptgrund dafür liegt aber darin, dass man als kleine Firma für die als wenig lukrativ angesehenen Impfstoffe keine ausreichende Finanzierung erhalten konnte, wie der Pionier dieser Technologie, Ingmar Hoerr, CEO und Mitgründer von CureVac, erklärte. Dennoch hatte CureVac bereits 2013 mit der Erprobung eines RNA-Impfstoffs gegen Rabiesviren (Tollwut) am Menschen begonnen; auch Moderna brachte eine entsprechende Vakzine gegen Vogelgrippeviren bis in die Klinische Testphase. Im Gegensatz zu den COVID-19-Impfstoffen von BioNTech und Moderna, die bei zweistelligen Minusgraden aufbewahrt werden müssen, da die RNA sonst auf Dauer instabil ist, verwendet CureVac stabil dreidimensional aufgefaltete RNA-Stränge. CVnCoV kann lange im normalen Kühlschrank gelagert werden und eignet sich daher auch für Regionen, in denen eine technisch aufwändige Kühlkette nicht sichergestellt werden kann.
Mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der aus dem Genom des Krankheitserregers die passenden Sequenzen für ein wirksames Antigen ausgewählt und maßgeschneiderte RNA hergestellt worden war, sollten die RNA-Impfstoffe auch an neue veränderte Virusstämme angepasst werden können. Für diese Varianten könnten auch vereinfachte Zulassungsverfahren gelten, wie Prof. Dr. Klaus Cichutek, Chef des für Impfstoffe zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts, mitteilte. Gefährliche Mutationen, welche die bisherigen Erfolge der in der Pandemie von den Regierungen erlassenen Schutzmaßnahmen in Frage stellen, sind schon mehrfach identifiziert worden und werden sicher immer wieder auftreten.
Einsatz der Technologien gegen die bekannten Plagen der Menschheit
Dass die zugelassenen Impfstoffe einen hohen Wirkungsgrad (oft über 90 Prozent) erzielen, ist mehr als man erhoffen konnte. Die bis Anfang März 2021 erhobenen Daten deuten auch darauf hin, dass die Impfstoffe nicht nur schützen, sondern auch das Ansteckungspotenzial verringern, sogar bei symptomlosen Infektionen. Wie wenig selbstverständlich solche Erfolge sind, zeigen die jahrzehntelangen vergeblichen Bemühungen mit HIV und Malaria. Zuletzt hatte man sich von einem neuartigen Impfstoff einen etwa 50-prozentigen Schutz vor einer HIV-Infektion versprochen, doch im Februar 2020 musste die 140 Mio. US-Dollar teure Studie in Südafrika abgebrochen werden, da es „absolut keinen Hinweis auf Wirksamkeit“ gebe, wie die Leiterin des Südafrikanischen Medizinischen Forschungsrates mitteilte. Die Suche nach einer wirksamen HIV-Vakzine geht weiter.
Alle Impfprogramme zur Bekämpfung von COVID-19 wären ohne gewaltige finanzielle Unterstützung durch Regierungen und private Organisationen nicht möglich gewesen. Die Mittel flossen reichlich, weil diesmal – im Gegensatz zu Malaria oder Ebola - auch die wohlhabenden Nationen direkt betroffen waren, und die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Dimensionen der Pandemie Furcht einflößten. Als Financiers der Impfstoffprogramme müssen vor allem genannt werden: CEPI, Gavi, der Wellcome Trust, die Bill & Melinda Gates-Stiftung sowie die beiden US-amerikanischen Programme BARDA (Biomedical Advanced Research and Development Authority) und DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency). Von vielen Unternehmen, die an Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 arbeiten, heißt es, dass sie ihre Technologieplattformen auch für die Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten nutzen wollen. Janssen beispielsweise hat in seiner Pipeline vektorbasierte Impfstoffkandidaten gegen Ebola und HIV, Oxford/AstraZeneca solche gegen Tuberkulose, Meningokokken (MenB) und Pest. CureVac sieht für seine RNA-Plattform Anwendungsbereiche neben Tollwut und Influenza auch gegen weitere gefährliche RNA-Viren, wie MERS, Zika und Nipah oder die Erreger von Lassa-, Dengue- und Gelbfieber. Auch wirksame Malaria-Impfstoffe könnten mit den neuen Technologien möglich werden. Es bleibt zu hoffen, dass dann, wenn die Corona-Pandemie überwunden ist, die Finanzierungsquellen für diese anderen Plagen der Menschheit nicht versiegen, weil Impfstoffe dann wieder nur als „Cent-Markt“ angesehen werden.