Infektionskrankheiten des Menschen: Neue Bedrohungen
Die EHEC-Epidemie 2011 steht in einer Reihe mit der „Neuen Grippe“ 2009, der Vogelgrippe 2005/2006 und der SARS-Welle 2003, die bei vielen Menschen in Deutschland Angst vor einer verheerenden Pandemie auslösten, sich aber bisher eingrenzen ließen. Experten warnen aber vor neuen gefährlichen Erregern, die sich im Zuge der Globalisierung und Klimaerwärmung ausbreiten. Gleichzeitig treten resistente Formen altbekannter Infektionskrankheiten auf, die völlig neue Herausforderungen stellen.
Es ist noch nicht lange her, dass man die Bedrohung durch früher gefürchtete Infektionskrankheiten wie Pocken, Masern, Tuberkulose, Pest und Cholera als überwunden angesehen hatte - zumindest in den hoch entwickelten Ländern. Verbesserte Hygiene, die Entwicklung von Impfstoffen und antimikrobiellen Therapeutika schienen die alten Geißeln der Menschheit eingedämmt oder sogar, wie im Fall des Pockenvirus, ausgerottet zu haben. Dieser Optimismus ist vergangen. Altbekannte Krankheiten melden sich in besonders gefährlichen, schwer zu bekämpfenden Formen zurück. Häufig werden Infektionen mit Erregern registriert, die man bisher hauptsächlich aus den Tropen kannte, wozu die Klimaerwärmung ebenso beiträgt wie der interkontinentale Flugverkehr.
Angst rufen vor allem neue Seuchen hervor, die durch zuvor unbekannte Infektionserreger plötzlich über alle Ländergrenzen hinweg auftreten. Das gravierendste Beispiel im globalen Maßstab ist sicherlich das erst Ende der 1970er-Jahre erkannte AIDS-Virus HIV, das sich weiterhin katastrophal ausbreitet; die WHO rechnet bis zum Jahr 2030 mit einem Anstieg der AIDS-Todesfälle auf 6,5 Millionen jährlich. Seit Kombinationstherapien zur Verfügung stehen, die den Infizierten lange Zeit ein fast normales Leben ermöglichen (und von den Kassen bezahlt werden), wird hierzulande die Bedrohung nicht mehr so stark wahrgenommen und leicht vergessen, dass AIDS trotz aller Behandlungserfolge immer noch eine unheilbare Krankheit ist. Große Beunruhigung lösten die aus Zentralafrika eingeschleppten, durch Ebola- und Marburg-Virus verursachten Erkrankungen aus, die glücklicherweise auf Einzelfälle beschränkt werden konnten.
Anders dagegen einige Infektionswellen des letzten Jahrzehnts wie beispielsweise SARS, das sich 2003 innerhalb von 36 Stunden über die Flughäfen der Metropolen zu einer weltweiten Pandemie ausbreitete. Zwei Jahre später hielt die Vogelgrippe die Welt in Atem und als bisher letzte Pandemie 2009 die sogenannte „Neue Grippe", die zunächst als „Schweinegrippe" bekannt geworden war. In Deutschland sind diese Viruspandemien vergleichsweise glimpflich verlaufen. Und so ebbte die mediale Aufmerksamkeit bei uns recht schnell wieder ab, bis sie im Mai 2011 wieder entflammte, als die EHEC-Epidemie ausbrach. Diese erfasste innerhalb von zwei Monaten über 4.200 Personen, von denen etwa 850 mit hämolytisch-urämischem Syndrom (HUS) in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten; 53 von ihnen verstarben.
EHEC (enterohämorrhagisches Escherichia coli) ist eine pathogene Form des Darmbakteriums E. coli, die zytotoxische Proteine, sogenannte Shiga-Toxine, produziert und Durchfallerkrankungen verursacht. Bei etwa 20 Prozent der Infizierten kommt es durch die Toxine zum HUS, einer Schädigung kleiner Blutgefäße, verbunden mit dem Verlust roter Blutzellen und Blutplättchen, Nierenversagen und Blut im Urin. Es ist noch nicht ausgemacht, dass wir diese schwerste, von Bakterien ausgelöste Infektionskrankheit, die man bisher in Deutschland registriert hat, überstanden haben. Das Robert-Koch-Institut (RKI), das bereits 2001 die Meldepflicht für EHEC eingeführt hatte, registriert in „normalen" Jahren zwischen 800 und 1.200 EHEC-Fälle. Diese beruhen aber im Gegensatz zur Epidemie von 2011 meist auf einem Erreger-Typ, der einen leichten Krankheitsverlauf verursacht. Erst Ende Februar 2012 starb allerdings in Hamburg ein sechsjähriges Mädchen, das mit EHEC vom gleichen gefährlichen Typ wie im letzten Jahr infiziert worden war.
Schlimmer als EHEC sind einige Erreger von Epidemien, die in Deutschland bisher noch nicht beobachtet wurden, von denen Experten aber befürchten, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis diese auch bei uns auftreten. Der Tropenmediziner Professor Dr. Emil Reisinger warnt vor dem Krim-Kongo-Virus (KKV), das in der Türkei zu Todesfällen geführt hat und jetzt auch in der Gegend von Antalya, einem der beliebtesten Urlaubsgebiete der Deutschen, nachgewiesen wurde. KKV wird durch Zecken übertragen und verursacht innere Blutungen (Hämorrhagien) mit einer ähnlich hohen Sterblichkeitsrate wie bei dem schrecklichen Ebola-Virus. Näher an die deutschen Grenzen herangerückt ist das West-Nil-Virus, das tödliche Hirnhautentzündungen auslösen kann und das, nachdem es die gesamten USA erobert hatte, auch in Südosteuropa und in Österreich gefunden wurde. Das Chikungunya-Virus, ein anderes hämorrhagisches Fieber-Virus aus dem tropischen Afrika und Asien, hat sich seit 2007 in Oberitalien etabliert. Die beiden zuletzt genannten Erreger werden hauptsächlich durch die Tigermücke Aedes albopictus auf den Menschen übertragen, die in den letzten Jahren bis an den Oberrhein in Baden vorgedrungen ist.
Zusammen mit EHEC sind diese und weitere exotische Infektionskeime vom RKI in einer kürzlich veröffentlichten Liste (Robert-Koch-Institut: Epidemiologisches Bulletin Nr. 44 vom 07.11.2011) in die hohe und höchste Priorität der Überwachung eingestuft worden. Ganz oben auf dieser Liste steht auch eine hierzulande fast schon vergessene alte Menschheitsplage - die Tuberkulose. Sie grassiert vor allem in Osteuropa und Afrika und fordert jährlich 1,8 Millionen Tote. Der Erreger, Mycobacterium tuberculosis, ist inzwischen gegen die meisten Therapeutika resistent und verbreitet sich vor allem in gemeinsamer Infektion mit HIV. Epidemiologen sprechen mit Hinweis auf die globalen Bevölkerungsbewegungen von einer tickenden Zeitbombe. 2010 wurden in Südafrika total resistente Mycobacterium-Stämme (TDR-TB, „total drug resistant tuberculosis") gefunden, die sich im Zuge der HIV-Pandemie rasch ausbreiten und die Experten vor völlig neue Herausforderungen stellen.