Kein neues Medikament ohne klinische Studien
Neue Medikamente bedürfen der Zulassung durch eine Arzneimittelbehörde. Der Zulassung geht die langwierige und kostenintensive klinische Entwicklung des Arzneimittels voraus. Diese umfassende klinische Prüfung ist notwendig zum Schutz des Patienten.
Bis zur Zulassung eines neuen Arzneimittels müssen verschiedene Hürden wie die präklinischen und klinischen Studien genommen werden. Dabei sind die klinischen Studien das Mittel zur Qualitätssicherung bei der Arzneimittel-Zulassung. Sie müssen Wirksamkeit und Verträglichkeit des Wirkstoffes eindeutig belegen, bevor dieser zur Vermarktung zugelassen werden kann. Die klinische Entwicklung ist für Arzneimittellhersteller mit einem hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden. So vergehen bis zur Zulassung durchschnittlich zehn bis fünfzehn Jahre. Die Kosten belaufen sich, Fehlschläge eingerechnet, auf etwa eine Milliarde US-Dollar je Arzneimittel.
Ein stark reglementierter Markt
Bevor ein Hersteller mit der klinischen Prüfung beginnen kann, müssen verschiedene rechtliche Vorgaben erfüllt sein. Bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) muss eine sogenannte EudraCT-Nummer beantragt werden (EudraCT: European Union Drug Regulating Authorities Clinical Trials). Diese wird benötigt, um bei den zuständigen Bundesoberbehörden, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI), eine schriftliche Genehmigung der Prüfung einzuholen. Gleichzeitig muss ein Antrag bei der zuständigen Ethik-Kommission gestellt werden. Genügen die Studie und das Studiendesign dem Qualitäts- und Sicherheitsanspruch der Bundesbehörde und liegt ein positives Votum der Ethikkommission vor, kann nach Anzeige bei der zuständigen Landesbehörde mit der Studie begonnen werden.
Die verschiedenen Phasen einer Studie
Ist ein Wirkstoff im Labor identifiziert, muss er folgende Prüfungen durchlaufen, bevor er dem Patienten als Medikament verabreicht werden darf: präklinische Phase und klinische Phasen I, II und III. Die präklinische Phase ist gekennzeichnet durch Wirkstoffoptimierung, Wirkungs- und Toxizitätstests im Reagenzglas und Tierversuche.
Von den ursprünglich 5.000 bis 10.000 Wirkstoffen bleiben nach etwa fünf Jahren noch acht für die sich anschließende klinische Phase I übrig.
Diese wird mit etwa 20 bis 80 gesunden Probanden durchgeführt. Hier muss die Prüfsubstanz den Nachweis ihrer Verträglichkeit erbringen. Gelingt dies, wird in der klinischen Phase II das Therapiekonzept („proof of concept“) überprüft. Hierbei sollen die geeignete Therapiedosis ermittelt und die Wirksamkeit und Verträglichkeit untersucht werden. Der Wirkstoff wird in dieser Phase II an 50 bis 200 Patienten getestet. Bei Erfolg schließt sich die Phase III an. In diese sind mehrere tausend Patienten eingebunden, um Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Medikaments mit einer hohen statistischen Signifikanz belegen zu können. Auch weniger häufige Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten können hier erstmals sichtbar werden. In der Regel handelt es sich bei Phase-III-Studien um randomisierte Doppelblindstudien, dem sogenannten Goldstandard der Studienplanung. Die Zuordnung des Patienten zu einer Behandlungsgruppe, also neuer Wirkstoff versus Vergleichstherapie, erfolgt nach dem Zufallsprinzip. So soll verhindert werden, dass sich die Hoffnungen und Ängste, die der Patient mit einem neuen Wirkstoff verbindet, auf die Therapie-Ergebnisse auswirken.
Auf der Suche nach geeigneten Probanden
Der Arzneimittelzulassung liegt also ein vielschichtiges Regelwerk zugrunde, das unter anderem durch Arzneimittel-Katastrophen wie dem Contergan-Skandal (Wirkstoff: Thalidomid) von 1961/62 geprägt wurde. Infolgedessen wurde beschlossen, dass gebärfähige Frauen aus frühen klinischen Studien (Phasen I/II) auszuschließen seien. Anfang der 1990er-Jahre revidierte die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA den Studienausschluss von Frauen, da geschlechterspezifische Unterschiede bei der Wirkung und Dosierung von Arzneimitteln immer mehr in den Vordergrund rückten. In Deutschland wurden mit der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes im Jahr 2004 Arzneimittelhersteller verpflichtet, im Antrag auf die Genehmigung klinischer Studien zu belegen, dass die gewählte Geschlechterverteilung angemessen ist.
Im Zuge des Arzneimittelneuordnungsgesetzes (AMNOG) verlangte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine geschlechterspezifische Auswertung der Zulassungsdaten klinischer Studien. Ohne eine solche Auswertung können Studien abgelehnt werden. Zudem muss jedes in Europa zugelassene Medikament auch an Minderjährigen erprobt werden, wobei Phase-I-Studien mit Minderjährigen unzulässig sind. Daher werden klinische Studien mit Minderjährigen in der Regel erst ab Phase III durchgeführt. Tritt die Krankheit ausschließlich bei Minderjährigen auf, werden diese bereits in Phase II eingebunden.
EU-weite Vereinheitlichung der klinischen Prüfungen
Die Antragstellung in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist derzeit nicht nur zeitaufwendig, sondern auch sehr kostenintensiv. Das führt unter anderem dazu, dass viele klinische Studien außerhalb der EU stattfinden, zum Beispiel in Afrika und Indien. Experten schätzen, dass ein Hersteller seine Studienkosten um 30 bis 50 Prozent senken kann, wenn er sein neues Mittel in Indien und nicht der EU testet.
Die Europäische Kommission hat nun im Juli 2012 einen Vorschlag für eine Verordnung über klinischen Prüfungen vorgelegt, mit der klinische Studien überall in der Europäischen Union denselben Regeln unterworfen werden sollen. Mehr Transparenz, kürzere Fristen bei der Zulassung von Studien und vereinfachte Verfahren bei der Berichterstattung sollen dem sehr unübersichtlichen Antragsverfahren in Europa Abhilfe schaffen (s. Link "EuroConsults" rechts).
Kritik an dem Entwurf kam in Deutschland aus vielen Richtungen, unter anderem von der Bundesärztekammer und dem Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e.V. Man sehe die Deklaration von Helsinki aus dem Jahre 1964 verletzt, welche die ethischen Richtlinien klinischer Forschung beinhaltet und verhindern soll, dass jemals wieder Menschen im Dienst der Wissenschaft missbraucht werden. Der Schutz minderjähriger und nicht einwilligungsfähiger Patienten sei nicht mehr ausreichend gewährleistet und die Aufgaben der Ethikkommissionen seien beschnitten. Inwieweit der Entwurf umgesetzt werden wird, wird sich vorraussichtlich noch im Jahr 2013 herausstellen. Die neue Verordnung soll im Jahr 2016 in Kraft treten.
AMNOG - Das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes
Das AMNOG ist am 1. Januar 2011 in Kraft getreten mit dem Ziel, die steigenden Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel zu reduzieren. Dabei soll das AMNOG die innovative Arzneimittel-Forschung nicht unterbinden, sondern die Bezahlbarkeit neuer Wirkstoffe gewährleisten. Deshalb müssen die Hersteller von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nun den Nachweis über deren Zusatznutzen erbringen und ein entsprechendes Dossier beim G-BA vorlegen. Der G-BA regelt die Arzneimittelbewertung und kann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) oder Dritte mit der Bewertung des neuen Wirkstoffes gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie beauftragen.
Auf Basis der Nutzenbewertung kann der Arzneimittelhersteller mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) einen Erstattungsbetrag für ein Medikament aushandeln. Ist kein Zusatznutzen nachweisbar, wird das Arzneimittel in eine Festbetragsgruppe eingeordnet.
Seit Einführung des AMNOG wurden 24 von 37 getesteten Wirkstoffen positiv und wie folgt bewertet (Stand: Mai 2013): Einen beträchtlichen Zusatznutzen bescheinigte der G-BA in sieben Fällen, in 14 einen geringen und in drei einen nicht quantifizierbaren. Der G-BA hat jedoch in vielen dieser Verfahren entschieden, den positiven Zusatznutzen auf kleine Patientengruppen zu beschränken. Ein weiterer Kritikpunkt im AMNOG-Verfahren ist die Wahl der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch den G-BA, da diese den Rahmen für die Zusatznutzenbewertung und die anschließenden Preisverhandlungen legt.
In Deutschland hat mit der Einführung des AMNOG ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die Nutzenbewertung wird von den meisten Beteiligten positiv bewertet. Kritik kommt dennoch, häufig Verfahrensfragen betreffend. Derzeit, zwei Jahre nach Inkrafttreten des AMNOG, ist es jedoch noch zu früh für eine umfassende Bilanz.
Veröffentlichung der Studienergebnisse
Als Grundlage der Beurteilung, ob ein Medikament zugelassen werden kann oder nicht, sollen die Ergebnisse klinischer Studien dienen. Die lückenlose Dokumentation aller Studienergebnisse, ob positiv oder negativ für den Hersteller, ist dabei erforderlich. Viele Beispiele auch aus jüngster Vergangenheit belegen jedoch die Manipulation der Öffentlichkeit durch das Schönen klinischer Studien. So wurden die Studiendaten (2009) zum Antidepressivum Edronax (Wirkstoff Reboxetin, Hersteller Pfizer) erst nach massivem öffentlichen Druck dem IQWIG übergeben, das Reboxetin keinen Zusatznutzen attestieren konnte.
An der Wirksamkeit von Tamiflu (Roche), dem meistverkauften Grippemittel der Welt, zweifeln Wissenschaftler seit Langem. Noch 2002 empfahl die WHO, das Grippemittel für den Notfall einzulagern. Viele Staaten folgten dieser Aufforderung. Als 2009 die Schweinegrippe ausbrach, fand das Medikament wiederum reißenden Absatz. Tamiflu bescherte Roche seit Markteinführung im Jahr 2002 einen Umsatz von mehr als zehn Milliarden Schweizer Franken (Stand 2013). Recherchen der unabhängigen Cochrane Collaboration zufolge sei jedoch durch die selektive Veröffentlichung der Studienergebnisse ein falsches Bild entstanden. Tamiflu lindere zwar die Symptome der Grippe, verkürze die Erkrankungsdauer aber um lediglich anderthalb Tage. Bisher gebe es außerdem keine Belege dafür, dass die Hospitalisierungsrate durch die Einnahme von Tamiflu gesenkt werde - so das Ergebnis von Berechnungen der Cochrane Gruppe. Roche hat mittlerweile eingelenkt und will alle Tamiflu-Studien offenlegen.
Die Veröffentlichung der Studienergebnisse ist in Deutschland im § 42 b Arzneimittelgesetz geregelt, nach dem die Studiendaten der zuständigen Bundesoberbehörde zur Verfügung gestellt werden müssen. Die Pflicht zur vollständigen Veröffentlichung der Studienergebnisse ist also per Gesetz festgeschrieben. Die Hersteller kommen ihr aber nur zögerlich nach.