Krebserkrankungen – Grundlagenforschung, Erfolge und Trends
Mit neuen systembiologischen Ansätzen und großen multidisziplinären Projekten wie dem Internationalen Krebsgenom-Konsortium rückt die Wissenschaft dem Krebsproblem zu Leibe. Fortschritte in Genom-, Epigenom- und Genexpressionsanalysen der Krebszellen, neue Ergebnisse zu den Regulations- und Interaktionsmechanismen von Zellen im Verbund mit Stammzellforschung und Virusforschung führen zu einem kausalen Verständnis der Krebserkrankungen. Das erhöht die Chancen, dass Krebs geheilt werden kann.
In der Zeitschrift „Science“ erschien zum Jahresende 2011 ein Editorial mit einem Ausblick auf 2012 unter der Überschrift „The year they crack cancer?“ (etwa: Das Jahr, in dem der Krebs besiegt wird). Vorsichtshalber war der Titel mit einem Fragezeichen versehen, und im Text versicherte der Autor rasch, dass keineswegs Heilung gemeint war – davon sei man noch weit entfernt. Aber im Verständnis der Entstehung, des Wachstums und der Ausbreitung von Krebs könnte der große Durchbruch erzielt werden, wodurch auch die Möglichkeiten, dass Krebs geheilt werden kann, viel näher rücken.
Das Genom, Epigenom und Transkriptom von Tumoren
Was veranlasst das angesehenste amerikanische Wissenschaftsjournal zu diesem Optimismus, der bei vielen Krebspatienten kaum erfüllbare Hoffnungen wecken dürfte? Die entscheidenden Erkenntnisfortschritte erwartet man von den Ergebnissen des Internationalen Krebsgenom-Konsortiums (ICGC), in dem sich Gensequenzierungs-Laboratorien aus 22 Staaten daran gemacht haben, Daten der fünfzig wichtigsten Krebstypen an jeweils Hunderten individueller Proben zu analysieren und miteinander und mit gesunden Geweben der gleichen Patienten zu vergleichen.
Krebskrankheiten sind Krankheiten des Genoms, und es gibt unzählige Variationen. Manche Tumoren weisen Tausende von Mutationen auf. Das Problem besteht darin, die für die Krankheit relevanten Gene zu identifizieren. Auch die nicht in der Basensequenz festgelegten epigenetischen Veränderungen im Krebsgenom und das Transkriptom (die Genexpression) werden vom ICGC untersucht. Die deutschen Beiträge an diesem gewaltigen Forschungsprojekt konzentrieren sich auf Hirntumoren bei Kindern; dieser ICGC-Verbund „PedBrainTumor“ wird vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg geleitet. Auch außerhalb des ICGC stehen genetische und epigenetische Analysen von Krebsformen - wie beispielsweise Brust-, Darm-, Leber- und Prostatakrebs - im Zentrum der onkologischen Forschung an den baden-württembergischen Universitäten.
In zentralen Institutionen wie dem Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) sollen schon in wenigen Jahren bei jedem Krebspatienten derartige Daten erhoben werden. Sie sollen nicht nur die Diagnose, sondern auch die bestmögliche Therapie sicherstellen. Bei manchen Tumoren wie den Glioblastomen wurden jetzt neue Klassifikationsschemata vorgestellt, die auf Kombinationen molekularbiologischer und klinischer Daten beruhen. Es zeichnet sich ab, dass es bald zu einer umfassenden neuen Klassifikation aller Krebserkrankungen auf der Grundlage ihrer Mutationen und genetischen Mechanismen und nicht wie bisher ihrer Herkunft im Gewebe des Körpers kommen wird. Die Onkologen hoffen, Unsicherheiten in den Prognosen und Therapieentscheidungen - die bisher unvermeidlich waren wegen der verwirrenden Vielfalt in der Ausprägung und Aggressivität von Tumoren scheinbar des gleichen Typus - damit verringern oder ausmerzen zu können.
Tumorstammzellen, Tumorviren und Zell-Zell-Interaktionen
Einen weiteren aktuellen Brennpunkt der Krebsforschung stellen die Tumorstammzellen dar - eine winzige widerstandsfähige Zellpopulation in der großen Masse der Krebszellen, die für den Nachschub sorgt und den Tumor am Leben erhält. Die Existenz von Krebsstammzellen war lange eher eine Hypothese als Tatsache, kann aber inzwischen für zahlreiche Krebsarten als erwiesen angesehen werden. Die Mechanismen, wie diese Stammzellen ihre Resistenz gegenüber Chemo- und Strahlentherapie durch Interaktion mit Komponenten in der Umgebung ihrer „Stammzellnische“ aufrecht erhalten und wie die Tumorstammzellen aus ihrer Nische herausgeholt und bekämpft werden können, gehören zu den faszinierendsten und vielversprechendsten Fragestellungen moderner Krebsforschung. Die meisten Fortschritte gibt es dazu bisher bei Leukämien (Blutkrebs).
Die Entdeckung der microRNAs als Regulationselemente der Genexpression hat den Krebsforschern wirksame Instrumente in die Hand gegeben, um das Wachstum von Tumorzellen experimentell zu beeinflussen. Auch für die Diagnostik von Krebskrankheiten sind diese Genschnipsel von Bedeutung. Ob sie sich auch therapeutisch einsetzen lassen, lässt sich noch nicht sicher abschätzen. Für den raschen Transfer von Forschungsergebnissen aus dem Labor in die klinische Praxis, eine Hauptaufgabe aller beteiligten Institutionen, wurde im Oktober 2012 das Deutsche Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK) eröffnet, ein Zusammenschluss des DKFZ und des NCT als Kernzentrum mit führenden klinischen Partnern in ganz Deutschland, darunter den Tumorzentren in Freiburg und Tübingen. Das Paradebeispiel für diese Translation ist der Nobelpreis-gekrönte Nachweis von Tumorviren als Ursache von Gebärmutterhalskrebs und die Entwicklung einer Schutzimpfung gegen diesen Krebs. Viren sind offenbar aber auch an der Entstehung anderer Krebsarten beteiligt, wie intensive Forschungen der letzten Jahre belegen.
Um Krebskrankheiten zu verstehen – ihren Ausbruch, ihren Verlauf und Eingriffsmöglichkeiten zu ihrer Bekämpfung –, müssen auch die Interaktionen der Tumorzellen miteinander und mit anderen Zellen und Körperstrukturen wie dem Bindegewebe, der extrazellulären Matrix und den Blutgefäßen berücksichtigt werden. Mit Hilfe von dreidimensionalen Tumormodellen in Gewebekulturen, Computersimulationen und systembiologischen Ansätzen versucht man, die enorm komplexen Wechselwirkungen zu erfassen, mit dem Ziel, Voraussagen für die Therapie zu treffen. Der Trend geht deshalb zu multidisziplinärer Verbundforschung, beispielsweise im Rahmen der bundesweiten Förderinitiative FORSYS - Forschungseinheiten der Systembiologie.
Zunahme der Erkrankungen - aber verbesserte Überlebenschancen
Die aus den neuen Forschungsansätzen gewonnenen Erkenntnisse über die Krebsursachen konnten sich bisher noch nicht in den Häufigkeiten oder Heilungschancen der Krebserkrankungen niederschlagen; dafür ist die Zeit viel zu kurz. Epidemiologische Studien der letzten Jahre zeigen für manche Krebsarten gute Fortschritte, für manche leider nicht. Insgesamt steigt die Zahl der Krebskrankheiten in Deutschland sogar weiter an; für 2012 ist nach Angaben des Robert-Koch-Instituts mit 490.000 Neuerkrankungen zu rechnen. Vor zehn Jahren waren es nur etwa 400.00.
Die Zunahme ist in erster Linie der demografischen Entwicklung geschuldet: Viele Krebserkrankungen treten im Alter gehäuft auf; auch haben Alterungsprozesse und Krebs Gemeinsamkeiten, die intensiv erforscht werden. Zum Teil beruht der beobachtete Anstieg der Krebshäufigkeiten auf der verbesserten Erfassung durch die Krebsregister, aber auch auf den verbesserten Screening-Methoden, etwa bei der Früherkennung von Brustkrebs und Hautkrebs. Die Zunahme an Lungenkrebs bei Frauen beruht höchstwahrscheinlich darauf, dass die Zahl der Raucherinnen seit einigen Jahrzehnten stark angestiegen ist, während bei den Männern die Raucherquote abgenommen hat, was sich inzwischen in einer etwas verringerten Mortalitätsrate an Lungenkrebs widerspiegelt. Allerdings sind Erkrankung und Sterblichkeit an Lungenkrebs bei Männern immer noch doppelt so hoch wie bei Frauen.
Die Fortschritte in der Erkennung von Krebsfrühstadien haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Überlebenschancen der Krebspatienten deutlich erhöht haben. Weniger als die Hälfte der heute Erkrankten stirbt an dem Krebs; vor dreißig Jahren waren es noch zwei Drittel. Der Hauptgrund sind aber die besseren Behandlungsmöglichkeiten: Personalisierte Medizin mit auf den Patienten zugeschnittenen Medikamenten und Strategien, die auch in den klassischen Methoden der Chemo- und Radiotherapie viel genauer und zielführender als früher geworden sind (siehe BIOPRO-Dossier „Krebstherapie und Diagnose“). Diese oft weniger spektakulären Fortschritte in der Krebsmedizin sind es, die den Betroffenen Hoffnung machen können, auch wenn der große von „Science“ prognostizierte Erkenntnisdurchbruch womöglich noch auf sich warten lässt.