Neue Trends in der Immunologie
Nachdem jahrzehntelang B- und T-Lymphozyten sowie Makrophagen als wichtigste Zellen des Immunsystems galten und intensiv erforscht wurden, stehen jetzt die dendritischen Zellen als Hauptkomponenten der adaptiven Immunität im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Auch die Erforschung der angeborenen Immunabwehr hat an Bedeutung gewonnen, seit die Funktion der Toll-like-Rezeptoren bei dieser ersten Verteidigungslinie des Körpers gegen Fremdattacken erkannt worden ist. Die Verleihung der Medizin-Nobelpreise trägt diesen neuen Entwicklungen Rechnung.
Obwohl Nobelpreise der Medizin und Naturwissenschaften meist für Entdeckungen verliehen werden, die weit zurückliegen, ist die Verleihung selbst häufig ein guter Indikator für die gerade aktuellen Entwicklungen und Trends der Forschung. Oft dauert es viele Jahre oder Jahrzehnte, bis die Bedeutung einer bahnbrechenden Entdeckung erkannt wird, und gelegentlich kommt für den Forscher die Anerkennung zu spät.
Dendritische Zellen - Erst angezweifelt, heute ein Hotspot der Forschung
Am 3. Oktober 2011 hatte das Stockholmer Komitee dem Immunologen Ralph M. Steinman „für seine Entdeckung der dendritischen Zellen und ihrer Rolle in der adaptiven Immunität“ den Nobelpreis für Medizin verliehen, ohne zu wissen, dass dieser drei Tage zuvor seinem Krebsleiden erlegen war. Steinman hatte diese merkwürdigen dendritischen Zellen, die mit ihren langen Zellfortsätzen an Nervenzellen erinnern, 1973 entdeckt und als Bestandteile des Immunsystems identifiziert. Sie sitzen in Geweben, in denen sie mit ihren verzweigten Fortsätzen Kontakte mit der Umwelt aufnehmen können, ob in der Haut oder den Darmschleimhäuten, der Lunge oder der Speiseröhre. Lange Zeit blieb er mit ihrer Erforschung fast allein; selbst die Existenz dendritischer Zellen wurde angezweifelt. Generationen von Forschern (darunter etliche Nobelpreisgekrönte) hatten nachgewiesen, dass für die adaptive (erworbene) Immunantwort drei Zelltypen entscheidend seien: die B- und T-Lymphozyten (und ihre Subtypen) sowie die Makrophagen.
Durch Steinmans Arbeiten hat sich das Bild gründlich gewandelt und dendritische Zellen sind heute ein Hotspot immunologischer Forschung geworden. Es zeigte sich, dass sie und nicht die Makrophagen die wichtigsten Antigen-präsentierenden Zellen sind. Reife dendritische Zellen, die ein eingedrungenes Bakterium oder ähnliches aufgenommen haben, wandern in die Lymphknoten ein und präsentieren dort den vorbeiströmenden T-Zellen den molekularen Steckbrief des Eindringlings und aktivieren sie.
TLRs erkennen Eindringlinge am Muster
Ein anderes brisantes Forschungsthema sind die Toll-like-Rezeptoren (TLR), die unter anderem auf der Oberfläche von Immunzellen (auch den dendritischen Zellen) sitzen und sozusagen als erste Verteidigungslinie der angeborenen Immunabwehr Eindringlinge an ihrem typischen Muster erkennen. Das namengebende Gen und Protein war ursprünglich bei der frühen Embryogenese der Taufliege Drosophila von den späteren Nobelpreisträgern Christiane Nüsslein-Volhard und Eric Wieschaus entdeckt worden. Später fand der Immunologe Jules Hoffmann, dass Mutationen in diesem Gen für die Fliegen tödlich sind, weil keine Immunreaktion in Gang gesetzt werden kann. Ein Befund, der die Erforschung der Immunabwehr bei „einfachen“ wirbellosen Organismen stimulierte.
Zwei Jahre später entdeckte Bruce Beutler TLRs in Mäusen. Inzwischen sind mindestens zwölf solcher mit „Toll“ homologen Rezeptoren beim Menschen nachgewiesen worden - hoch konservative Komponenten eines phylogenetisch offenbar uralten angeborenen Immunsystems, das Entzündungsreaktionen als Bakterienabwehr, aber auch den berüchtigten septischen Schock auslöst. Sowohl Hoffmann als auch Beutler wurden wie Steinman 2011 mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet. Auch Wissenschaftler baden-württembergischer Universitäten sind an der Aufklärung der TLR-abhängigen Immunreaktionen wesentlich beteiligt.
Stark verzweigte Querschnittswissenschaft
Allergische Reaktionen sind ebenfalls eines der zentralen Themen immunologischer Forschung mit Anwendung in der medizinischen Praxis. Wegen ihrer großen und in unserer Gesellschaft ständig wachsenden Bedeutung werden sie in einem eigenen Dossier „Volksseuche Allergie“ behandelt. Dazu gehört auch die Erforschung der Signalkaskaden, die an der Entstehung einer Allergie beteiligt sind und die durch Mastzellen in Gang gesetzt werden. Man war lange davon ausgegangen, dass Mastzellen auch bei der Entstehung von Autoimmunkrankheiten maßgeblich beteiligt sind; das scheint nach neuen Erkenntnissen aus dem Deutschen Krebsforschungszentrum aber nicht der Fall zu sein. Von Erkrankungen des Immunsystems kann jedes Organ des Körpers oder auch systemisch der ganze Körper betroffen sein. Autoimmunkrankheiten und die Erkennung bzw. Nicht-Erkennung von Krebszellen durch das Immunsystem sind, ebenso wie die Transplantationsimmunologie und die Erforschung der Immun-Stammzellen, hochaktuelle Forschungsgebiete, mit denen sich Artikel in diesem Dossier befassen.
Der Heidelberger Immunologe Stefan Meuer hat die Immunologie als eine Querschnittswissenschaft bezeichnet, deren einzelne Zweige von niemandem mehr vollständig überblickt werden können. Ihre Erkenntnisse strahlen in viele Bereiche der Biologie und Medizin aus und sie selbst wird durch Entwicklungen in anderen Forschungsdisziplinen transformiert. Gerade diese Wechselwirkungen machen die Immunologie zu einer so faszinierenden, sich ständig verjüngenden Wissenschaft. Auch mehr als hundert Jahre nach den ersten Nobelpreisen der Medizin, die den Gründervätern der modernen Immunologie - Emil von Behring, Robert Koch, Ilja Metschnikow und Paul Ehrlich- verliehen worden waren, ist die immunologische Forschung immer wieder für überraschende, nobelpreiswürdige Entdeckungen gut.