Retroviren: Vom Krankheitserreger zum Therapiehelfer
Viren sind infektiöse Partikel, die nicht zur selbstständigen Vermehrung fähig sind und keinen eigenen Stoffwechsel haben. Darum sind sie auch keine Lebewesen, obwohl sie einzelne Merkmale des Lebendigen aufweisen. Die Familie der Retroviren tritt vor allem mit ihrem berüchtigsten Vertreter in Erscheinung: dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV), das unbehandelt früher oder später zu AIDS führt. Doch Retroviren sind für die Forschung nicht nur wegen ihrer Bekämpfung als Erreger von Interesse. Ihre charakteristischen Eigenschaften machen sie zu einem vielversprechenden Werkzeug für Laboralltag und Gentherapie. Seit der ersten Anwendung beim Menschen im Jahr 1990 gab es nahezu 2.000 klinische Studien zur Gentherapie. Bei etwa einem Fünftel der klinischen Studien werden heutzutage Retroviren als Vektoren zum Gentransport genutzt.
Extrazellulär liegen Viren als sogenannte Virionen vor, die zur Verbreitung dienen. Sie bestehen im Wesentlichen aus einer äußeren Lipidmembran, den für die Infektion nötigen Proteinen, einer Proteinhülle und einer darin eingeschlossenen Nukleinsäure, je nach Viren-Typ DNA oder RNA. Intrazellulär bestehen sie nur noch aus der Nukleinsäure, die die Informationen zur eigenen Replikation und Reproduktion der Virionen enthält. Nur durch die Infektion einer geeigneten Wirtszelle und unter Ausnutzung der dortigen Replikationsmaschinerie können Viren sich fortpflanzen.
Die typische Infektion durch Retroviren beginnt mit dem Andocken und der anschließenden Fusion der Virushülle mit der Wirtszellmembran. Eine Besonderheit der Retroviren ist, dass ihre Erbinformation in Form von einzelsträngiger RNA vorliegt. Diese wird nach der Infektion einer Wirtszelle in DNA umgeschrieben. Dies geschieht durch das Enzym reverse Transkriptase. Diesem charakteristischen Schritt, der dem üblichen genetischen Informationsfluss von der DNA zur RNA entgegen verläuft, verdanken die Retroviren auch ihren Namen, der für Reverse Transkriptase Onkoviren steht. Die reverse Transkriptase wurde in den Retroviren erstmals entdeckt und hat sich seitdem zum wichtigen Werkzeug der Molekularbiologie entwickelt.
Die entstandene Virus-DNA wird in den Kern der Wirtszelle transportiert und in deren Genom integriert. In diesem Zustand kann die Virus-DNA als Provirus verbleiben und auch auf Tochterzellen übertragen werden, ohne dass die Viruserkrankung auftritt.
Einen besonderen Fall stellt die Integration der Virus-DNA in Zellen der Keimbahn dar. Man bezeichnet die Retroviren, die so vererbt werden, als endogene Retroviren. Dass dies im Laufe der Evolution häufig geschehen ist, wird aus den acht Prozent retroviralen Genfragmenten im menschlichen Genom ersichtlich (1).
Bei exogenen Retroviren dagegen folgt die Ablesung der viralen Gene und die anschließende Expression viraler Proteine und des RNA-Genoms. Diese werden zusammen in neue Viruspartikel verpackt und über Knospung in ein Stück Wirtszellmembran gehüllt, was zur Freisetzung der neuen Virionen führt.
Viraler Gen-Lieferservice
Retroviren sind darauf spezialisiert, gezielt in bestimmte Zellen einzudringen und ihre Erbinformation ins Wirtsgenom zu integrieren. Diese Eigenschaft nutzen Wissenschaftler für die Gentherapie. Denn die Retroviren können eingesetzt werden, um auch anderes genetisches Material, das in die Viruspartikel verpackt wurde, ins Wirtsgenom einzuschleusen. Diesen Prozess der Genübertragung mittels Viren nennt man Transduktion. Ein Risiko der Gentherapie stellt aber die ungerichtete Integration ins Genom dar, welche auch intakte Wirtsgene in ihrer Funktion beeinträchtigen kann. So können auch inaktive Wachstumsgene reaktiviert werden, was unkontrolliertes Zellwachstum auslöst und zur Tumorbildung führt. In der Vergangenheit kam es deshalb wiederholt zu Leukämie-Erkrankungen als Folge einer Gentherapie mit veränderten Blutstammzellen.
Der erste Einsatz einer Gentherapie beim Menschen erfolgte 1990 zur Therapie einer angeborenen Immunschwäche, ausgelöst durch ein defektes Gen. Eine funktionale Version des Gens wurde dabei mittels Retroviren in Blutzellen der Patientin eingebracht. Nach der Gabe der so veränderten Blutzellen verbesserte sich der Zustand der Patientin. In Deutschland gab es seitdem 17 klinische Studien zu Gentherapie-Anwendungen mit Retroviren (2). Im November 2012 wurde das erste Gentherapeutikum durch die Europäische Kommission zugelassen: „Glybera“ zur Therapie der Lipoproteinlipase-Defizienz (LPLD), einer Fettstoffwechselstörung, basiert allerdings nicht auf Retroviren, sondern auf einem viralen Vektor aus der Familie der Adenovieren, die ebenfalls ihr genetisches Material ins Genom der Wirtszelle integrieren.
HIV - noch immer unbesiegt
Welche Bedrohung Retroviren als Erreger weitverbreiteter Infektionskrankheiten spielen können, wird vor allem durch das HI-Virus deutlich, dessen Infektion unbehandelt früher oder später zur Immunschwächeerkrankung AIDS führt. Das Virus nutzt Immunzellen des Wirts zur Vermehrung, genau gesagt T-Helferzellen, die andere Immunzellen bei der Immunantwort unterstützen. Trotz großer Forschungsanstrengungen gibt es noch immer keine Heilung oder Impfung für HIV-Infektionen. Die hohe genetische Variabilität des HI-Virus macht es sowohl dem Immunsystem als auch den Forschern fast unmöglich, den Erreger im Körper gezielt systematisch anzugreifen. Ursache dafür ist die hohe Fehlerrate, mit der die reverse Transkriptase arbeitet, wodurch sich das Virusgenom und damit auch das Virus ständig verändern.
Wenn auch keine Heilung möglich ist, haben sich doch die Therapiemöglichkeiten für HIV-Infizierte in den letzten Jahren deutlich verbessert. Die heute übliche Hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART), eine Kombinations-Therapie mit drei oder mehr antiretroviralen Medikamenten verschiedener Stoffklassen, kann die Virusreplikation stark hemmen. Dadurch können HIV-bedingte Symptome reduziert und das Immunsystem zumindest teilweise wiederhergestellt werden.
Beispiele für Präparate sind VIRAMUNE® und APTIVUS® (Wirkstoffe Nevirapine und Tipranavir) von Boehringer Ingelheim. Nevirapine war der erste zugelassene nicht-nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitor und ist heute das weitverbreitetste antiretrovirale Medikament weltweit. Besonders bewährt hat es sich für infizierte Mütter, da es hilft, die Ansteckung des Kindes beim Stillen zu verhindern. Tipranavir ist ein Proteaseinhibitor der zweiten Generation und wird vor allem bei Patienten eingesetzt, die bereits Resistenzen gegen einen oder mehrere andere Proteaseinhibitoren entwickelt haben.
Unschädliches Mitglied der gefährlichen Familie
Eine besondere Gattung von Retroviren stellen die Foamyviren dar, auch Spumaviren genannt. Ihre Infektion löst kein erkennbares Krankheitsbild aus. Sie sind vor allem aufgrund ihrer Molekularbiologie und ihres Replikationszyklus und als virale Vektoren für therapeutische Ansätze für die Wissenschaft von Interesse. Die Forscher der Arbeitsgruppe von Professor Martin Löchelt am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg erforschen Foamy-Viren unter anderem zur Therapie bestimmter humaner Krebsarten. In Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut in Berlin wird außerdem der Einsatz von Foamy-Viren zur Immunisierung gegen HIV untersucht. Die Idee ist dabei, HIV-typische Epitope in Foamy-Viren einzubauen, so dass diese im Organismus die Antikörperbildung gegen HIV auslösen und so eine Immunisierung erreichen. So könnte man das Problem umgehen, dass attenuierte, also inaktivierte Viren, wie sie bei anderen Viren-Typen häufig zur Impfung eingesetzt werden, im Fall von HIV nicht sicher für den Einsatz im Menschen sind. Erste Versuche mit derart veränderten Foamyviren als Impfvektoren haben bereits begonnen. Doch bis zum Impfstoff ist es auch hier noch ein weiter Weg.