Sucht: Neue Konzepte für ein altes Problem
So vielfältig die Sucht erzeugenden Stoffe und Verhaltensweisen sind, so verschieden sind ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Persönlichkeit des Süchtigen. Die moderne neurobiologische Forschung hat aber auch gemeinsame Prinzipien der Entstehung und Aufrechterhaltung von Sucht aufgezeigt, die als Ansatz für neue Strategien zur Prävention und Therapie und zur Vermeidung von Rückfällen dienen können. Mit diesem Dossier sollen die aktuellen Forschungsergebnisse im Einzelnen vorgestellt werden.
In einem sehr erfolgreichen Buch vertrat der bekannte Evolutionsbiologe und Ökologe Josef H. Reichholf die Ansicht, dass die Menschheit in der neolithischen Revolution den Ackerbau nicht etwa deshalb erfunden hat, um sich ein zuverlässigeres Nahrungsangebot als durch Jagen und Sammeln zu erschließen, sondern um Bier zu brauen (Reichholf, 2008: „Warum die Menschen sesshaft wurden“). Mag sein, dass die These für den Autor wegen seiner bayerischen Wurzeln besonders attraktiv ist; es kann aber keinen Zweifel geben, dass Menschen seit Jahrtausenden enorm kreativ gewesen sind, Mittel und Wege zu finden, um sich zu berauschen. Im Gilgamesch-Epos, der ältesten bekannten Dichtung der Welt, trinkt Enkidu, der göttliche Begleiter des Helden, fünf Krüge Bier, spürt ein inniges Behagen und wird zum Menschen.
Vom übermäßigen Konsum führt der Weg über die Gewöhnung zur Sucht; der Wunsch nach „innigem Behagen“ wird durch ein zwanghaftes Bedürfnis nach der Droge abgelöst. Kennzeichnend für die Sucht sind das Verlangen („Craving“) nach dem Objekt der Abhängigkeit, der Verlust der Kontrolle über den Beginn, die Beendigung und die Menge des Gebrauchs sowie das fortdauernde Festhalten an der Droge trotz offensichtlicher gravierender gesundheitlicher und/oder sozialer Auswirkungen (Internationale Klassifikation psychicher Störungen - ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation). Sucht wird heute nicht mehr als Zeichen von fehlender Moral oder Willensschwäche aufgefasst, sondern als eine chronische Krankheit, durch die Strukturen und Funktionen im Gehirn verändert werden und für die entsprechende Therapien gesucht werden müssen.
Tabak und Alkohol sind die bedeutendsten Drogen
Es gibt eine enorme Vielfalt unterschiedlicher Stoffe und Verhaltensweisen, die süchtig machen. Ständig kommen neue hinzu. Die häufigsten und bekanntesten sind: Alkohol, Tabak, Heroin und andere Opioide, Cannabis, Kokain, natürliche oder synthetische Hallozinogene (z. B. Mescalin bzw. LSD), Aufputschmittel (v. a. Amphetamine wie z. B. Ecstasy oder MDMA, aber auch Ephedrin), Beruhigungs- und Schlafmittel (wie die Benzodiazepine).
Tabak und Alkohol stehen mit weitem Abstand an erster Stelle in der Erzeugung von Sucht. Der Umgang mit diesen legalen Drogen ist wegen ihrer weitgehenden gesellschaftlichen Akzeptanz besonders schwierig. Den Alkohol umweht der Dunst des Volkstümlichen, und das Zigarettenrauchen gilt unter Jugendlichen, der gefährdetsten Bevölkerungsgruppe, vielfach immer noch als „cool“, auch wenn die Erfolge durch Aufklärung, Präventivmaßnahmen und Regulierungen im Kampf gegen die mächtigen Interessengruppen Hoffnung geben. Oft werden die Drogen zusammen konsumiert; gerade das gesundheitliche Problem jugendlicher „Rauchtrinker“ ist besonders gravierend, denn Alkohol und Tabak entfalten, unter anderem durch die Freisetzung von Acetaldehyd, eine synergistische Wirkung, die das Krebsrisiko im Kopf-Hals-Bereich enorm erhöht.
Bei den illegalen Drogen sind Cocktails verschiedener Substanzen (z.B. Speedball, ein Gemisch aus Heroin und Kokain) besonders gefährlich; sie werden in immer wieder anderen, unkontrollierten Mischungen auf dem illegalen Markt angeboten. Eine große Rolle spielt auch die Art der Einnahme; generell wirkt das Spritzen und Rauchen schneller und stärker als das Schlucken.
Im letzten Jahrzehnt hat die Zahl der Personen, die an Spielsucht und suchtartigen Essstörungen (Anorexie, Bulimie, Binge Eating) leiden, besorgniserregend zugenommen. Äußere Ursachen für diese Abhängigkeiten sind einerseits die immer weiter verbreiteten Geldspielautomaten, an denen der Staat kräftig mitverdient (die Einnahmen aus Vergnügungs-. Umsatz- und Gewerbesteuerzahlung der Unterhaltungsautomatenwirtschaft lagen 2012 in Deutschland bei 1,7 Mrd. €; Angaben lt. Jahrbuch „Sucht“ 2014), andererseits die Einflüsterungen und Vorbildfunktionen aus Medien, Unterhaltungs- und Werbebranche.
Im Einzelnen sind die Auswirkungen der Stoffe so verschieden wie ihre Chemie; manche Drogen zerstören Gesundheit und Persönlichkeit in kurzer Zeit, andere wirken schleichend über Jahrzehnte. Entsprechend unterschiedlich müssen Präventions- und Therapieprogramme angelegt sein. Wenn in diesem Dossier die Schwerpunkte auf pharmakologischen Behandlungen der Suchtkrankheiten liegen, so ist ein Erfolg doch nur durch anhaltende psychotherapeutische und psychosoziale Interventionen zu erzielen.
Gemeinsame Prinzipien
Die moderne neurobiologische Forschung hat gezeigt, dass dem Suchtverhalten bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen gemeinsame Prozesse im Gehirn zugrunde liegen. Diese sind auch bei vielen Tieren wirksam; einen Großteil unseres heutigen Wissens verdanken wir tierexperimentellen Untersuchungen, die anschließend auf den Menschen übertragen wurden.
In groben Zügen lassen sie sich folgendermaßen zusammenfassen: Ebenso wie gutes Essen, Sex, Geldgewinn oder Spielerfolge bewirken Drogen die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin im Belohnungssystem des Gehirns, zu dem der Nucleus accumbens, der Hippocampus und die Amygdala gehören. Der N. accumbens ist für die Glücksgefühle verantwortlich, im Hippocampus werden Erinnerungen gespeichert, wie die Befriedigung zustande kam, und die Amygdala erzeugt auf bestimmte Reize hin eine konditionierte Antwort. Dopamin interagiert auch mit dem für erhöhte Erregbarkeit verantwortlichen Neurotransmitter Glutamat; dadurch entsteht im Gehirn eine Verknüpfung zwischen lebenswichtigen Aktivitäten (wie z.B. Nahrungsaufnahme oder Sex) einerseits und Glücksgefühlen und Belohnung andererseits.
Suchterzeugende Reize überschwemmen den N. accumbens mit Dopamin - umso mehr, je höher die Dosis ist und je schneller sie aufgenommen wird. Das Gehirn passt sich daran an, indem es (z. B. durch Eliminierung von Dopaminrezeptoren) die Wirkung von Dopamin auf das Belohnungssystem des Gehirns abschwächt. Das Glücksgefühl, das der Abhängige in der Droge sucht, wird immer geringer, und er reagiert darauf mit einer höheren Dosis, um den gleichen „Kick“ wie früher zu verspüren - ein Effekt, den man als „Toleranz“ bezeichnet.
Die Freude an der Droge versiegt schließlich ganz; die Erinnerungen aber bleiben erhalten und äußern sich im Drang, die früheren Glücksgefühle im Drogenkonsum wiederzufinden. Auch der Lernprozess (die Konditionierung) bleibt bestehen: Die im Hippocampus und in der Amygdala gespeicherten Informationen über die mit dem begehrten Stoff assoziierten Situationen lösen intensives Verlangen aus, wann immer die Person mit einem entsprechenden Umweltreiz konfrontiert wird. Dieses Verlangen kann auch noch nach Jahren erfolgreicher Abstinenz wieder erwachen und zum Rückfall führen.
Durch die Wirkungen anderer Neurotransmitter (z. B. Serotonin und Endorphine) und spezifischer Rezeptoren und Signalketten (z.B. das Opioid- und Endocannabinoid-System) ist das Reaktionsnetz tatsächlich wesentlich komplexer und ermöglicht differenzierte Antworten auf unterschiedliche Reize. Mit diesem Dossier sollen einige aktuelle Forschungsergebnisse über die molekularen und genetischen Ursachen von Sucht und neue Konzepte zu ihrer Vorbeugung und Bekämpfung im Einzelnen vorgestellt werden.
Sucht in Deutschland: Fakten und Kommentare
Die legalen Drogen, Alkohol und Tabak, verursachen unter allen süchtig machenden Stoffen die größten gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Schäden. Nach dem internationalen Diagnoseklassifikationssystem ICD-10 waren unter Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren etwa 2 Millionen Alkoholabhängige und 5,6 Millionen Tabakabhängige. Die Zahl der Opfer übersteigt mit etwa 73 Tausend Alkoholtoten und 110 bis 140 Tausend Todesfällen durch Tabak die Zahlen aller anderen Drogentoten bei weitem.
Die Zahl der von den illegalen Drogen Cannabis, Kokain und Amphetaminen Abhängigen wurde für 2012 in Deutschland auf ca. 320.000 geschätzt - mit einer sehr breiten Unsicherheitsmarge. Hinzu kommt eine mindestens ebenso hohe (wahrscheinlich aber viel höhere) Zahl von Personen mit riskant hohem („missbräuchlichen“) Drogenkonsum. Bei der großen Mehrheit von ihnen handelt es sich um Cannabis-Abhängige; allerdings kommen bei vielen dieser meist jungen Konsumenten noch andere Drogen hinzu.
Zur Heroinabhängigkeit gibt es keine neueren belastbaren Angaben; ältere Schätzungen kamen auf bis zu über 100.000. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes starben 2013 durch illegale Drogen in Deutschland insgesamt 1.002 Personen, fast dreiviertel davon an Heroin.
In den letzten fünf Jahren hat sich die von der deutschen Polizei sichergestellte Menge an der hochgefährlichen synthetischen Droge Crystal Meth, einem Amphetamin, verzwanzigfacht. Auch die Partydroge Ecstasy hat nach jahrelangem Rückgang inzwischen wieder Konjunktur.
Medikamentenabhängigkeit ist vor allem bei älteren Personen verbreitet, besonders die Abhängigkeit von Schlaf-und Beruhigungsmitteln wie Benzodiazepinen. Die Zahlen schwanken zwischen 1,4 und 1,9 Millionen Betroffene. Die Grauzone ist groß, da alle psychotropen Medikamente rezeptpflichtig sind und sie in den meisten Fällen trotz der Suchtproblematik legal verschrieben werden. Nicht abschätzbar ist die Zahl derer, die sich die Medikamente illegal, vor allem durch das Internet, beschaffen. Vor allem bei Psychostimulanzien wie den Amphetaminen ist der Übergang zu den eigentlichen illegalen Drogen fließend. Die Zahl der Toten durch Medikamentenabhängigkeit ist unbekannt.
Über 260.000 Personen leiden nach Hochrechnungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2012) an Spielsucht. Pathologische Essstörungen wie Magersucht und Bulimie werden vor allem bei Mädchen und jungen Frauen beobachtet; nach Angaben des Robert-Koch-Instituts sind davon über 20 Prozent der 11- bis 17-Jährigen betroffen.