„Chirurgie und die zugehörige Anästhesie sind heutzutage sehr sicher. Sie waren noch nie so gut planbar, die Risiken waren noch nie so gut unter Kontrolle“, beschreibt Dr. Jan Larmann, Leitender Oberarzt der Universitätsklinik für Anästhesiologie in Heidelberg, die derzeitige Situation an Krankenhäusern. Trotzdem treten bei einem signifikanten Anteil der Patienten zum Teil gravierende Komplikationen im Umfeld einer Operation auf, wie beispielsweise Nachblutungen, Wundinfekte, Thrombosen, Herzinfarkte oder Niereninsuffizienzen. Bei näherer Betrachtung der Umstände ist dies allerdings nicht erstaunlich, denn vor allem schwierige operative Eingriffe (zum Beispiel Tumorentfernungen, Herzoperationen) werden gegenwärtig oft an Menschen durchgeführt, deren Allgemeinzustand deutlich schlechter ist als noch vor 20 Jahren - sie sind älter und kränker. Grundsätzlich gibt es aber aufgrund der verbesserten Techniken und einer umfassenden begleitenden Betreuung viel weniger unerwünschte Vorfälle als früher.
KoMed, der „Kognitive Medizinische Assistent“
Die individuellen Gründe für die auftretenden Komplikationen sind vielfältig und bisher oft unzureichend verstanden. Larmann gründete deshalb 2015 eine Arbeitsgruppe, die grundlegende Fragestellungen im Umfeld von Operationen untersucht: Wie können Patienten mit einem erhöhten Komplikationsrisiko erkannt werden? Wie können diese durch prophylaktische und therapeutische Maßnahmen geschützt werden? Um diese Fragen umfassend beantworten zu können, arbeitet er seit März 2020 zusammen mit anderen Wissenschaftlern des Universitätsklinikums Heidelberg an der Entwicklung eines „Kognitiven Medizinischen Assistenten (KoMed)“. Das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK) geförderte Projekt soll die im Umfeld von Operationen generierten Daten systematisch erfassen und mit Hilfe von Algorithmen analysieren. „Wir wollen eine [auf die Patientinnen und Patienten zugeschnittene] Entscheidungsunterstützung ermöglichen“, erklärt der Anästhesist das langfristige Ziel. „Ein System, das uns sagt, welches Medikament, welche Therapie in der aktuellen Situation für den einzelnen Patienten das Beste ist.“
Neue Speicherstrukturen ermöglichen umfassende Analyse
Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Zunächst muss eine geeignete Infrastruktur für die Datenverarbeitung geschaffen werden, denn bisher werden die im Krankenhaus erfassten Informationen in Systemen gespeichert, die vorwiegend für die Archivierung der Daten ausgelegt sind. Diese erlauben keinen Vergleich zwischen Patientinnen und Patienten oder das Erkennen von Zusammenhängen. Aufgabe der Arbeitsgruppe Medizinische Informationssysteme und des Zentrums für Informations- und Medizintechnik des Universitätsklinikums Heidelberg ist es nun, die Daten in einem strukturierten Format zu sichern, das eine weiterführende Analyse ermöglicht. Dafür ist unter anderem auch der Aufbau eigener Serverkapazitäten innerhalb der Klinikarchitektur notwendig, damit die Daten gut geschützt sind. Die phellow seven GmbH, mit Wurzeln am Universitätsklinikum Heidelberg, entwickelt zur Unterstützung eine App, die die Interaktion zwischen Arzt und Patient außerhalb des Krankenhauses erleichtert. Über diese sollen digitale Anamnesebögen bereitgestellt werden, die die Patientinnen und Patienten im Vorfeld einer Operation bereits zu Hause ausfüllen, und aus denen die einzelnen Fachrichtungen (Anästhesie, Chirurgie, Radiologie etc.) dann selektiv die für sie relevanten Informationen auslesen können.
Die gemeinsam mit Prof. Dr. Pascal Probst, dem Leiter des Studienzentrums der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, und Dr. Rosa Klotz, Fachärztin an der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie, durchgeführte Klinische Studie konzentriert sich auf Patienten, bei denen Hochrisiko-Operationen wie größere Baucheingriffe oder gefäßchirurgische Operationen durchgeführt werden. Sie umfasst mindestens 600 Teilnehmer, die in der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg behandelt werden. Zunächst erfolgt die Erfassung von Routinedaten, also allgemeinen Laborwerten, radiologischen Bildern, EKGs oder Lungenfunktionswerten. Die Verarbeitung dieser großen Datenmengen (Big Data-Analyse) findet mit Unterstützung des Instituts für Medizinische Biometrie und Informatik statt. Zusätzlich werden Proteomanalysen durchgeführt, das heißt, aus dem Blutplasma der Patientinnen und Patienten wird das Vorkommen von ungefähr 1.000 verschiedenen Proteinen bestimmt. Blutanalysen stellen auch jetzt schon eine Möglichkeit der Risikovorhersage dar, ein erhöhter Troponin-Wert korreliert beispielsweise mit einem erhöhten Risiko für Herz- oder Kreislaufkomplikationen. Die systematische Analyse der im Blut zirkulierenden Proteine bietet die Chance, weitere Risikomarker zu identifizieren.
Anpassung der Risikoeinschätzung während des Klinikaufenthaltes
Eine Besonderheit der Studie ist das Einbeziehen aktueller Daten, die im Rahmen eines Eingriffs generiert werden. „Während einer Operation passieren viele einzelne Schritte, die dazu führen, dass sich das Risiko des Patienten verändert“, erläutert Larmann. Durch Unterstützung der Philips Medizin Systeme Böblingen GmbH, die Monitoring-Systeme herstellt, wird die fortlaufende, strukturierte Speicherung von beispielsweise Blutdruck, EKG und Sauerstoffsättigung ermöglicht. Nachfolgend können dann die gesamten Messkurven, das heißt, die Veränderungen und nicht nur Einzelwerte, analysiert werden. Weitere Kooperationspartner sind die KARL STORZ SE & Co. KG, deren Endoskope digitale Bilder liefern, und die Mint Medical GmbH, die radiologische Bilder so verarbeitet, dass sie für Big Data-Analysen genutzt werden können. Postoperativ werden die Patientinnen und Patienten drei Monate lang beobachtet.
Am Ende der zweijährigen Projektphase soll der „Kognitive Medizinische Assistent“ aus all den im Vorfeld erfassten Daten Muster erkennen und Zusammenhänge aufdecken können, die zu einer deutlich besseren Einschätzung des individuellen Komplikationsrisikos führen als bisherige Risikoscores. Dies dient als Grundlage, um in Zukunft spezielle prophylaktische Strategien erarbeiten und den Patientinnen und Patienten so mehr Sicherheit geben zu können. Des Weiteren soll eine Basis geschaffen werden, um die Risikoabschätzung während der Operation (Narkoseverfahren, Medikation) anzupassen. Die neue Analysestruktur wird zudem skalierbar sein, sodass sie auch von anderen Kliniken in Deutschland genutzt werden kann.