Von der ersten Sekunde bis etwa zum 25. Lebensjahr – in dieser Zeitspanne nimmt ein Mensch an Gewicht zu, entwickelt sich und wächst, bis er schließlich sein endgültiges Körpergewicht erreicht hat. Dabei weiß unser Körper stets, wann unser Hunger gestillt ist und alle notwendigen Stoffe aufgenommen wurden. Als Folge tritt ein Sättigungsgefühl ein. Fehlt dieses Signal oder wird es ignoriert, ist der Weg geebnet für eine sich entwickelnde Adipositas. Nicht selten steckt aber auch eine Fehlernährung hinter der krankhaften Fettleibigkeit.
Grundsätzlich ist die krankhafte Gewichtszunahme Risikofaktor für eine Vielzahl von Erkrankungen. Neben Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf- und neurologischen Erkrankungen begünstigt eine Adipositas mindestens 13 verschiedene Krebsarten. Die Folgen von Adipositas können gravierend sein und sind deshalb ein nicht nur aktuelles, sondern auch sehr wichtiges Forschungsgebiet.
Ein Blick ins Fettgewebe
Fettgewebe lässt sich in verschiedene Typen unterteilen, weißes, braun/beiges und rosa Fettgewebe. Neben der Farbe unterscheiden sich die Gewebearten durch ihre einzigartige Zellzusammensetzung und Funktion. Schaut man sich die Bestandteile des weißen Fettgewebes genauer an, so lassen sich hier die Spezialisten des Fettstoffwechsels, die weißen Fettzellen, finden. Sie kümmern sich um Fetteinlagerungen – also die Energiereserven – und beeinflussen den Energiestoffwechsel durch Hormonausschüttungen. Des Weiteren lassen sich im weißen Fettgewebe eine Vielzahl von Immunzellen finden. Kommt es zu einer Überernährung, vermehren sich die Fettzellen, werden größer und lösen eine Kaskade von Entzündungsprozessen aus.
Fettgewebe in der Forschung
Die Wissenschaft beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit Ursachen und Therapiemöglichkeiten von Adipositas, eine optimale Versuchsplattform mit einer validen Vorhersagekraft wurde bislang nicht entwickelt. Gesundheitsrisiken für Patient*innen machen die direkte Forschung am Menschen unmöglich. Viele Wissenschaftler*innen vertrauten demnach auf Tierversuche, um die pathophysiologischen Mechanismen hinter der Krankheit besser zu verstehen. Die geringe Übertragbarkeit der Ergebnisse vom Tier auf den Menschen schränkt allerdings die Aussagekraft der Tierversuche stark ein. Es bleibt der Blick in die Petrischale. Welche Möglichkeiten bieten Zellkulturen?
Die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Peter Loskill, Gruppenleiter am NMI und Brückenprofessor an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen, der von 2016 bis 2021 die Attract-Gruppe Organ-on-a-Chip am Fraunhofer IGB leitete, entwickelt maßgeschneiderte Organ-on-Chip-Technologien. Diese speziellen Chips integrieren lebende Substrukturen von Organen in eine kontrollierte Mikroumgebung. Die Chips bestehen aus kleinen dreidimensionalen Kammern und Kanälen im Mikrometermaßstab und bilden die Funktionalität oder Krankheit eines Organs ab. Erste Systeme der Arbeitsgruppe konnten lediglich Fettzellen kultivieren. Das neue innovative Mix & Match System integriert darüber hinaus alle wichtigen zellulären Komponenten, die sich auch im menschlichen weißen Fettgewebe wiederfinden lassen.
„Der Adipositas-Chip der nächsten Generation zeichnet sich durch seine hohe Flexibilität und Modularität aus. Neben der Energiespeicherung und -mobilisierung lassen sich mit dem Chip ebenso die fettgewebsspezifische Hormonausschüttung simulieren und verschiedenste Entzündungsprozesse mit einbeziehen. Dieser multidimensionale Ansatz ist bislang einzigartig!“, betont Prof. Loskill.
Zukünftig bietet das neuartige System Wissenschaftler*innen eine humane Alternative zur Durchführung von Tierversuchen. Dadurch könnte nicht nur die Fettstoffwechsel-Forschung und die Medikamentenentwicklung von der neuen Testplattform profitieren, sondern auch die personalisierte Medizin vorangetrieben werden.
Die Forschung wurde unter anderem gefördert durch die Fraunhofer-internen Programme Talenta Start und Attract (601543), durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF; 031L0247B) sowie durch das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 der Europäischen Unionim Rahmen der Marie Skłodowska-Curie-Finanzhilfevereinbarungen Nr. 812954 und Nr. 845147.