Organe auf einem Chip: Was für Außenstehende wie Science-Fiction klingen mag, ist ein wichtiger und sehr erfolgversprechender Ansatz, um Tierversuche zu reduzieren. Als Leiter des 3R-Centers in Tübingen und Professor für Organ-on-Chip-Systeme an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen und dem NMI Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut in Reutlingen, kommt Peter Loskill eine besondere Rolle bei der Entwicklung von Alternativmodellen zu. Zusammen mit Silke Riegger, der Leiterin der Geschäftsstelle des 3R-Centers, haben sie es sich zum Ziel gesetzt, wissenschaftliche Fragestellungen mittels moderner und komplexer In-vitro-Modelle ohne den Einsatz von Tiermodellen zu beantworten – ganz im Sinne des 3R-Prinzips (Vermeidung, Verringerung und Verbesserung = Replacement, Reduction, Refinement – 3R).
Mini-Organe als Alternativmodelle der Zukunft
Die Jury des Händel-Tierschutzpreises würdigte bei ihrer Entscheidung, dass das Team um Peter Loskill und Silke Riegger bereits eine Vielzahl von Organ-on-Chip-Systemen als Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen für verschiedene Organsysteme entwickelt hat. Die Organ-on-Chip-Technologie basiert darauf, dass (Stamm)Zellen bestimmter Gewebetypen in einem Zellkultursystem in einer mikrofluidischen Plattform angesiedelt werden. Aus den Zellen entwickeln sich verschiedene Gewebe, wie etwa Herz, Netzhaut oder Niere entsprechen. Ein differenziertes dreidimensionales Gewebe entsteht, das einem Organ in seiner Funktion und Architektur sehr viel näherkommt als eine einzelne Zellschicht. Über kleine Mikrokanäle, ähnlich zu Blutgefäßen, wird ein Blutersatz durchgespült.
Integrierte Sensoren ermöglichen es, dynamische Prozesse in den Mini-Organen auszulesen und so z. B. Erkenntnisse über Wirkung und Verträglichkeit der getesteten Arzneimittel zu gewinnen. „Bereits jetzt gibt es einzelne Gewebe und Organe, die wir schon sehr gut im Labor nachbilden können, wie etwa die Netzhaut des Auges“, erläutert Loskill die Anwendung. „Damit untersuchen wir zum Beispiel Arzneimittelkandidaten zur Behandlung von Erkrankungen des Auges oder Ursachen von unerwünschten Nebenwirkungen, die zum Erblinden führen können“, führt er weiter aus.
„Die Auszeichnung erfüllt uns mit Stolz und bestätigt uns in unserer Überzeugung, dass es von zentraler Bedeutung ist, zusätzlich zur Entwicklung der Ersatz- und Ergänzungsmethoden auch in die Ausbildung und in die Wissenschaftskommunikation zu investieren. Nur wenn die relevanten Zielgruppen über die neuartigen Modelle informiert und mit den nötigen theoretischen und praktischen Fähigkeiten ausgerüstet werden, gelingt es, sie in die breite Anwendung zu überführen“, ergänzt Riegger. Denn auch wenn Tierversuche auf absehbare Zeit ein unverzichtbarer Baustein im Methodenmix der biomedizinischen und pharmazeutischen Forschung bleiben werden, so bietet die Organ-on-Chip-Technologie doch großes Potenzial, deren Anzahl signifikant zu reduzieren.
3R-Netzwerk Baden-Württemberg
Seit 2020 unterstützt das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg sowohl die Professur „Organ-on-a-chip“ von Peter Loskill als auch den Aufbau und die Arbeit des 3R-Centers Tübingen für In-vitro-Modelle und Tierversuchsalternativen. Beides wird gemeinsam von der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen und dem NMI getragen. Zusammen mit vier weiteren Zentren bildet Tübingen das Grundgerüst des „3R-Netzwerk Baden-Württemberg“, das bundesweit eine Vorreiterrolle einnimmt.
„Die Auszeichnung mit dem Ursula M. Händel-Tierschutzpreis ist ein großartiger Erfolg für Prof. Peter Loskill und Dr. Silke Riegger, zu dem ich herzlich gratuliere. Der Preis bestätigt zugleich die Exzellenz und hervorragende Entwicklung des 3R-Netzwerks Baden-Württemberg: An Hochschulen und Forschungseinrichtungen im Land bündeln interdisziplinäre Forschungsgruppen ihre Kompetenzen — für das Tierwohl und den Fortschritt in der Biomedizin. Im 3R-Netzwerk werden jedoch nicht nur Ersatz- und Ergänzungsmethoden für Tierversuche entwickelt und damit Tierexperimente insgesamt reduziert. Auch die Nachwuchsförderung gehört zur Mission der Forschenden: Mit zielgerichteten Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen werden junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fit gemacht für eine innovative biomedizinische Forschung. Damit kommen wir auch unserer Verantwortung als starker Forschungsstandort nach“, führt Ministerin Petra Olschowski aus.