Die neuronalen Wälder in unserem Gehirn
Lange wurde die Bildung von Neuronen (Nervenzellen) und Blutgefäßen getrennt voneinander betrachtet. Die Forschung der letzten Jahre hat jedoch gezeigt, dass es Signale gibt, die Zellen beider Systeme beeinflussen können. Die immer sensitiveren und spezifischeren Untersuchungsmethoden erlauben es inzwischen, selbst geringe Mengen eines Proteins zu detektieren, das zuvor nicht hätte nachgewiesen werden können. So werden Stück für Stück die genauen Mechanismen und Prozesse, die bei der Bildung von Nervenzellen (Neurogenese) und Blutgefäßen (Angiogenese) eine Rolle spielen, verstanden.
Eine aktuelle Arbeit aus dem European Center for Angioscience (ECAS) untersucht die Verteilung und Funktion eines Rezeptors im sich entwickelnden Kleinhirn, der klassischerweise dem Blutgefäßsystem zugeschrieben war, nun aber auch in Neuronen gefunden wurde.
Die Nervenzellen unseres Gehirns gehören zweifellos zu den komplexesten Zelltypen, die man im Körper finden kann. Über ineinandergreifende Verzweigungen, die wie Äste eines Baumes anmuten, werden elektrische Signale verarbeitet. Wie Antennen empfangen diese sogenannten Dendriten die Signale von anderen Zellen und leiten sie zum Zellkörper weiter. In ihrer aktuellen Arbeit untersuchen Wissenschaftler*innen um Professor Dr. Carmen Ruiz de Almodóvar, wie die komplexe Struktur der Dendriten entsteht und welche Rolle dabei das Gefäßsystem spielt.
Dabei konnten sie zeigen, dass Nervenzellen einen funktionellen Rezeptor (Tie2) besitzen, der zuvor fast ausschließlich Blutgefäßen zugeordnet wurde. Tie2 ist der Hauptrezeptor für die Angiopoietine Ang1 und Ang2, die in direktem Zusammenhang mit der Angiogenese stehen. Daraus folgern die Wissenschaftler*innen, dass sowohl Nervenzellen als auch Blutgefäße während der Entwicklung des Gehirns auf die gleichen Signale reagieren.
In der aktuell im Fachjournal Cell Reports veröffentlichten Arbeit beschreiben sie ihre Entdeckung genauer: Im Kleinhirn von Mäusen wird die Bildung der Dendriten durch die Angiopoietine Ang1 und Ang2 reguliert, von Wachstumsfaktoren also, von denen man bisher annahm, dass sie nur während des Wachstums des Blutgefäßsystems eine Rolle spielen.
Im Fokus der Untersuchungen standen sogenannte Purkinje-Zellen, die mit ihren beeindruckenden Dendritenbäumen wohl die Mammutbäume im Wald der Nervenzellen darstellen. Sie bündeln die Informationen anderer Nervenzellen im Kleinhirn und leiten sie weiter, um so beispielsweise die Feinmotorik des Körpers zu ermöglichen.
Angeordnet in einer einzelligen Schicht und gestapelt in parallel verlaufenden Reihen vermitteln die Dendriten von Purkinje-Zellen den Eindruck eines dichten Urwaldes. Während der Dendritogenese bilden diese Zellen das wohl größte und meistverzweigte Dendritengeflecht aller Neurone im Gehirn. Eine fehlerhafte Entwicklung dieser Vernetzung wurde bereits mit Entwicklungsstörungen wie Autismus in Verbindung gebracht.
Die Dendritogenese der Purkinje-Zellen erstreckt sich über einen langen, vor allem nachgeburtlichen Zeitraum und läuft zeitgleich mit diversen anderen Entwicklungsprozessen ab, wie beispielsweise der Migration von Nervenzellen und dem Wachstum von Blutgefäßen. Es stellte sich die Frage, wie diese verschiedenen Zellen miteinander kommunizieren, um eine zeitlich und morphologisch akkurate Entwicklung sicherzustellen.
„Wir beobachteten, dass der Rezeptor Tie2 wichtig für die morphologische und funktionelle Entwicklung der Dendriten dieser Neurone ist. Und wir konnten zeigen, dass Neurone über Angiopoietine und ihren Rezeptor Tie2 mit Blutgefäßen (via Ang2) und Gliazellen (via Ang1) kommunizieren“, fasst Carmen Ruiz de Almodóvar die aktuellen Erkenntnisse zusammen.
Die Arbeit spiegelt die intrinsische und vernetzte Verbindung zwischen dem Gefäßsystem und dem Nervensystem wider, die förmlich danach ruft, die grundlegenden und pathologischen Signale, die an dieser Kommunikation beteiligt sind, weiter zu erforschen.