Die rasante Evolution der Spermatogenese
Heidelberger Wissenschaftler entschlüsseln die genetischen Grundlagen der schnellen Hodenevolution bei verschiedenen Säugetierarten und beim Menschen. Der evolutionäre Druck bei männlichen Säugetieren, die Zeugung von eigenem Nachwuchs sicherzustellen, hat zu einer rasanten Evolution des Hodens geführt. Bioinformatische Untersuchungen, die ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Prof. Dr. Henrik Kaessmann, Wissenschaftler am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg, durchgeführt haben, zeigen, dass dieser Druck insbesondere die Evolution später Stadien der Spermienbildung beschleunigt hat. Ziel war es, erstmals vergleichend die genetische Steuerung der Spermienbildung bei verschiedenen Säugetierarten und beim Menschen zu entschlüsseln und damit die Evolution der sogenannten Spermatogenese nachzuzeichnen. Dabei konnten die Forscher auch Gene aufspüren, deren Aktivität in der Evolution unverändert geblieben ist.
Die Spermienbildung im Hoden wird durch ein fein abgestimmtes und komplexes Zusammenspiel der Aktivität verschiedener Gene – auch Genexpression genannt – kontrolliert. Bisher war das Verständnis dieser genetischen Programme zum größten Teil auf die Maus beschränkt. „Weitgehend unbekannt waren somit die genetischen Grundlagen, die die großen Unterschiede der Spermatogenese bei verschiedenen Säugetieren ausmachen, sowohl hinsichtlich der Anzahl gebildeter Spermien als auch im Hinblick auf ihre Eigenschaften“, erläutert Noe Mbengue, Doktorand in Prof. Kaessmanns Forschungsgruppe „Evolution des Säugetiergenoms“. Den Heidelberger Wissenschaftlern ist es nun gelungen, auf Zellebene die Expression aller Gene über den gesamten Zeitraum der Spermatogenese hinweg für zehn verschiedene Säugetiere zu bestimmen. Die untersuchten Organismen repräsentieren alle großen Säugetiergruppen und schließen den Menschen sowie seine nächsten Verwandten – die Menschenaffen – ein. Die Forscher nutzten dazu hochmoderne Techniken der Einzelzell-Sequenzierung.
Auf der Grundlage dieser Daten konnten sie anschließend mithilfe von bioinformatischen Vergleichen zwischen den verschiedenen Säugetieren die Evolution der Spermatogenese nachzeichnen. Nach Angaben von Prof. Kaessmann haben diese vergleichenden Untersuchungen ein zeitliches Muster aufgedeckt. „Während die genetischen Programme in frühen Stadien der Spermatogenese sehr ähnlich zwischen den Säugetieren sind, so weichen sie in späten Stadien stark voneinander ab; das heißt, dass die rasante Evolution des Hodens ein Ergebnis großer Unterschiede in Zellen der späten Spermatogenese ist“, betont Dr. Florent Murat, ehemals Postdoktorand in der Forschungsgruppe von Henrik Kaessmann und jetzt Gruppenleiter am Nationalen Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt (INRAE) in Rennes (Frankreich). Weitere Analysen der Wissenschaftler enthüllten die Gene, deren Aktivität im Laufe der Evolution unverändert geblieben ist. Sie steuern fundamentale Prozesse der Spermienbildung, die in allen Säugetieren gleich ablaufen. „Unsere Daten liefern also auch wertvolle Grundlagen für die Erforschung von Fruchtbarkeitsstörungen bei Männern“, erklärt Prof. Kaessmann.
Schließlich konnten die Wissenschaftler mit ihren Daten das erste Mal Spermien unterscheiden, die jeweils ein X- oder Y-Chromosom tragen und so das Geschlecht der Nachkommen bestimmen. Mithilfe dieser Aufteilung gelang es den Forschern, die Expression der Gene auf diesen Geschlechtschromosomen systematisch zu untersuchen. Wie diese Untersuchungen gezeigt haben, wird die Genexpression auf den Geschlechtschromosomen aller männlichen Säugetiere während der Reifeteilung, der sogenannten Meiose, herunterreguliert. Dieser Mechanismus ist vermutlich entscheidend, um einen nachteiligen genetischen Austausch zwischen dem X- und dem Y-Chromosom während der Meiose zu verhindern.
Die Ergebnisse der Studie zur Evolution der Spermienbildung bei Säugetieren wurden in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht. Der Europäische Forschungsrat, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Australian Research Council und die Novo Nordisk Foundation haben die Forschungsarbeiten unterstützt.