Die Gene eines Organismus spielen eine wichtige Rolle für die Entwicklung charakteristischer Merkmale. Doch selbst genetische Klone, die unter denselben Umweltbedingungen aufwachsen, können Unterschiede in ihren Merkmalen aufweisen – beispielsweise in der Körpergröße. Wie sich diese nicht-vererbbaren Unterschiede auf die Zahl der Nachkommen eines Organismus auswirken und welche Rolle die Interaktion mit anderen Lebewesen dabei spielt, werden der Konstanzer Biologe Lutz Becks und sein Team in einem aktuellen Forschungsprojekt untersuchen. Das Projekt „Deciphering individual variation to understand the convergence of ecological and evolutionary timescales“ wird von der VolkswagenStiftung im Rahmen der Momentum-Initiative mit 926.200 Euro gefördert.
Gene und Umwelt können nicht alles erklären
Genau wie bei uns Menschen unterscheiden sich Mitglieder derselben Art auch bei anderen Tieren, Pflanzen oder Mikroorganismen in ihren äußeren Merkmalen. Diese Unterschiede sind eine entscheidende Triebkraft der Evolution und erlauben einer Art, auf Umweltveränderungen in ihrem Lebensraum zu reagieren. Merkmalsvariationen sind zum einen das Ergebnis genetischer Unterschiede zwischen Organismen – und in diesem Fall vererbbar. Zum anderen leistet die Umwelt im Zusammenspiel mit der genetischen Information einen Beitrag zu ihrer Entstehung.
„Es gibt jedoch auch Variation, die sich nicht mit der Genetik oder der Umwelt erklären lässt. Sogar genetisch nicht zu unterscheidende Organismen, sprich Klone, die unter identischen Umweltbedingungen aufwachsen, können unterschiedliche Merkmale zeigen“, so Becks. Diese sogenannte intragenotypische Variation ist schon länger bekannt, was sie jedoch nicht weniger interessant macht. Denn: Sie steht im Widerspruch zu unserem Verständnis evolutionärer Prozesse und der grundlegenden Annahme, dass eine vorhersagbare Beziehung zwischen den Merkmalen von Organismen und ihrer biologischen Fitness besteht.
Kein Leben in Isolation
Im Rahmen des Momentum-Projektes wollen Becks und sein Team daher das Phänomen „intragenotypische Variation“ in Verbindung mit Arteninteraktionen als neuem Aspekt erforschen. „Organismen leben in der Regel nicht isoliert von anderen Lebewesen, weder von denen der eigenen Art noch von denen einer anderen. Vieles von dem, was wir in der Natur beobachten, ist das Ergebnis von Interaktionen zwischen Organismen und den daraus resultierenden Auswirkungen auf deren Fitness“, erklärt Becks.
Die Fitness hängt letztendlich davon ab, welche Merkmale die beiden aufeinandertreffenden Individuen haben. Und da kommt die intragenotypische Variation ins Spiel: Um die biologische Fitness vorhersagen zu können, muss die intragenotypische Variation beider Interaktionspartner berücksichtigt werden. Das Ziel des Projekts ist es also, herauszufinden, wie sich die Interaktion mit anderen Lebewesen auf die biologische Fitness genetisch identischer Organismen mit unterschiedlichen Merkmalen auswirkt, um bestehende Theorien aus Evolutionsbiologie und Ökologie vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse neu zu beleuchten.
Das Methodenrepertoire erweitern
Um dies zu erreichen, werden die Konstanzer Forschenden mit Organismen arbeiten, deren Merkmalsvariationen und Reproduktionserfolg im Labor gut zu bestimmen sind: einzellige Mikroorganismen wie Algen oder Wimperntierchen. Situationen, in denen die biologische Fitness dieser Organismen experimentell untersucht werden soll, sind Räuber-Beute-Interaktionen oder die Interaktion zwischen Nahrungskonkurrenten. „Wir möchten uns bei der Beschreibung der Merkmalsvariation jedoch nicht ausschließlich auf offensichtliche Unterschiede – z.B. in der Größe der Organismen – beschränken, sondern uns darüber hinaus auch mit den Ergebnissen zellbiologischer Prozesse – wie Transkriptions- und Zellzyklusvariationen – beschäftigen“, so Becks.
Die dafür erforderlichen modernen Methoden sollen mithilfe der Förderung der VolkswagenStiftung in Konstanz etabliert und auf die einzelligen Modellorganismen angewendet werden. „Wir gehen davon aus, dass intragenotypische Variation im Zusammenspiel mit Arteninteraktionen eine bisher unterschätzte Komponente ist, die weitreichende Auswirkungen auf die biologische Fitness von Organismen und damit auf die Dynamik von Populationen und Artengemeinschaften hat. Ein besseres Verständnis dieser Zusammenhänge ist daher essentiell für Evolutionsforschung und Ökologie und könnte beispielsweise helfen, die bestehende Diskrepanz zwischen Labor- und Feldstudien in der Evolutionsforschung besser zu verstehen“, schließt Becks.
Über die Momentum-Förderung
Die Momentum-Initiative der VolkswagenStiftung richtet sich an WissenschaftlerInnen in einer frühen Phase nach Antritt ihrer ersten Lebenszeitprofessur. Geförderte sollen so die Möglichkeit erhalten, die eigene Professur inhaltlich und strategisch weiterzuentwickeln. Nach erfolgreicher Evaluation der ersten Phase von vier Jahren besteht die Option auf eine weitere Förderung für die Dauer von zwei Jahren.