Heidelberger Mediziner forschen an neuen Therapieansätzen für sehr seltenen, frühkindlichen Parkinsonismus
Kinderärzte und Neurochirurgen am Universitätsklinikum Heidelberg führten die deutschlandweit erste gentherapeutische Behandlung für die angeborene Stoffwechselstörung L-Aminosäure-Decarboxylase (AADC)-Mangel durch. Eine Zulassung wird dieses Jahr erwartet. Netzwerk, Patientenregister und Studie unter Heidelberger Federführung soll Früherkennung, Diagnose, Therapie und Erforschung dieser seltenen Erkrankung verbessern.
Erstmals steht für Kinder mit der sehr seltenen Stoffwechselstörung AADC (Aromatischer L-Aminosäure-Decarboxylase)-Mangel eine Therapie in Aussicht, die direkt an der verursachenden genetischen Veränderung angreift. Ein dreijähriges Mädchen hat als erste Patientin deutschlandweit am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) eine solche Gentherapie erhalten: Ein halbes Jahr nach dem Eingriff am Gehirn geht es dem Kind gut und seine motorische Entwicklung hat sich deutlich verbessert. Die Heidelberger Ärzte hoffen, die Wirksamkeit der Gentherapie zukünftig mit einer sehr frühen Diagnose und Behandlung vor Einsetzen der Komplikationen verstärken zu können. Aktuell läuft daher eine Studie zur Früherkennung des AADC-Mangels bei Neugeborenen, die von der Dietmar Hopp Stiftung gefördert wird.
Weltweit sind rund 250 Kinder von der angeborenen Erkrankung AADC-Mangel betroffen, bei der die Bildung von wichtigen Botenstoffen im Nervensystem, den sogenannten Neurotransmittern, gestört ist. Dies beeinträchtigt die Weiterleitung von Signalen aus dem Gehirn und führt zu schweren Störungen der Entwicklung und zu Einschränkung der Bewegung. Die Bewegungsstörungen sind mit der Parkinsonkrankheit vergleichbar, sodass der AADC-Mangel zum Spektrum des frühkindlichen Parkinsonismus gezählt wird. Für die Betroffenen bedeutet die Erkrankung lebenslange Pflegebedürftigkeit und zum Teil einen frühen Tod im Kindesalter. Die bisherigen medikamentösen Behandlungsoptionen sind unbefriedigend und wenig erfolgreich. Nur wenige Kinder erreichen damit die Kopfkontrolle oder weitere motorische Fähigkeiten, wie das Sitzen oder Stehen.
Studien aus Taiwan haben gezeigt, dass eine Gentherapie die Situation der Kinder verbessern kann. Dabei wird eine funktionsfähige Version des veränderten Gens in das Gehirn geschleust, das daraufhin die benötigten Botenstoffe für die Signalweitergabe selbst herstellen kann. „Mit der Gentherapie besteht erstmals die Chance, die Ursache der Erkrankung zu beseitigen und nicht nur, wie bisher, die Symptome zu lindern“, sagt Professor Thomas Opladen, Oberarzt und Leiter der Neurotransmitterarbeitsgruppe am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin. Die europäische Marktzulassung für das verwendete Medikament mit dem Wirkstoffnamen Eladocagene exuparvovec wird für 2022 erwartet.
Die Behandlung des Mädchens mit dem Gentherapeutikum wurde gemeinsam von Ärztinnen und Ärzten der Sektion Neuropädiatrie und Stoffwechselmedizin des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin und der Neurochirurgischen Klinik am UKHD im September 2021 durchgeführt. Der Eingriff ist komplex: Die Mediziner operierten das Kind am Gehirn, um das Medikament direkt in das Bewegungszentrum injizieren zu können. „Diese hoch-präzise Operation im Gehirn setzt große Expertise und technische Ausstattung wie ein intraoperatives MRT voraus. Solche Behandlungen können daher nur in spezialisierten und qualifizierten Therapiezentren durch ein multiprofessionelles Team erfolgen“, erläutert Professor Karl Kiening, Leitender Oberarzt der Neurochirurgischen Klinik.
Bereits drei Monate nach dem Eingriff zeigte das Kind klinisch-relevante Fortschritte in der motorischen Entwicklung. Sie begann Arme und Beine zu bewegen und die Kopfhaltung zu kontrollieren. Sie ist inzwischen zufriedener, schläft besser und ist weniger durch schmerzhafte Muskelkrämpfe beeinträchtigt.
Das Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin in Heidelberg verfügt über eine langjährige Erfahrung in der Behandlung und Diagnose der angeborenen Neurotransmitterstörungen. Unter der Leitung von Prof. Opladen wurde für diese seltenen Erkrankungen ein internationales Netzwerk gegründet und ein Patientenregister aufgebaut (http://intd-online.org/), um Diagnose und Therapie dieser seltenen Erkrankungsgruppe durch Forschung zu verbessern. Eine Auswertung des Registers wurde im Fachjournal „Nature Communications“ veröffentlicht.
Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) Heidelberg
Eine Erkrankung liegt laut der in Europa geltenden Definition dann vor, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen davon betroffen sind. In Deutschland leiden etwa vier Millionen Menschen an einer der rund 9.000 verschiedenen seltenen Erkrankungen. Anfang 2011 wurde in Heidelberg das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) gegründet, um diesen Patientinnen und Patienten zu helfen, rascher zu einer qualifizierten Diagnostik, Therapie und Betreuung zu kommen. Das ZSE bündelt und fördert die in vielen Bereichen des UKHD vorhandene Expertise in der Versorgung von Betroffenen mit seltenen Erkrankungen, die interdisziplinäre Vernetzung sowie die grundlagenorientierte und klinische Forschung. Das ZSE ist die primäre Anlaufstelle für alle Mediziner in Praxis und Kliniken, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Betreuung ihrer Patienten mit einer seltenen Erkrankung suchen sowie auch für Betroffene und ihre Familien.