Reize über die Antennen empfangen, im Zellkörper verrechnen, dann erst über die Ausgangsleitung weiterreichen: Nicht alle Nervenzellen im Gehirn halten sich an diesen in Lehrbüchern beschriebenen Ablauf der Signalweitergabe, wie Forschende der Medizinischen Fakultät Heidelberg (MFHD) sowie der Universitäten Linz und Tübingen aktuell in der Fachzeitschrift „Science“ berichten. Rund die Hälfte der Nervenzellen im Hippocampus, dem Erinnerungszentrum des Gehirns, umgehen ihren vom neuronalen Netzwerk verordneten Aktivitätsrhythmus durch einen „Signal-Kurzschluss“: Die eingehenden Signale passieren gar nicht erst den Zellkörper, sondern gelangen auf direktem Weg von den Antennen in die Ausgangsleitung. Damit bleiben sie auch dann aktiv, wenn alle anderen Nervenzellen vom Netzwerk gehemmt werden und eine Zwangspause einlegen. Noch ist unklar, welche Auswirkungen dieser Mechanismus auf den Gesamtorganismus hat. Möglicherweise stellt das Gehirn auf diese Weise sicher, dass wichtige Informationen nicht verloren gehen.
Die „Standard-Nervenzelle“ besteht aus den fein verästelten Dendriten, die Ähnlichkeit zum Geäst eines Baumes haben und als Signal-Antennen dienen, dem Zellkörper und der daraus entspringenden Ausgangsleitung, dem Axon. Über das Axon werden Signale an die nachfolgenden Nervenzellen weitergeleitet. An den Dendriten und dem Zellkörper empfängt die Nervenzelle aktivierende und hemmende Signale, die im Bereich des Zellkörpers miteinander verrechnet werden. Nur dann, wenn die Erregung die Hemmung überwiegt, werden – vereinfacht beschrieben – Signale über das Axon weitergegeben. Auf diese Weise schützt sich das Hirn vor Überlastung, denn nicht jeder eingehende Reiz ist gleichermaßen relevant.
Ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Privatdozent Dr. Martin Both, Arbeitsgruppenleiter in der Abteilung für Neuro- und Sinnesphysiologie am Institut für Physiologie und Pathophysiologie der MFHD, untersuchte bestimmte Zellen im Hippocampus, die in ihrer Anatomie von diesem klassischen Muster abweichen: Bei rund der Hälfte dieser „Pyramidenzellen“ – das zeigte die Gruppe bereits in vorangegangenen Arbeiten – entspringt das ableitende Axon direkt an einem Antennenast der Dendriten und nicht am Zellkörper. „Wir haben uns gefragt, ob sich diese Pyramidenzellen durch ihre Anatomie hemmenden Reizen, die am Zellkörper ansetzen, entziehen“, erläutert Dr. Both. Die direkte Hemmung des Zellkörpers spielt z.B. in Form regelmäßig ausgelöster Ruhephasen eine wichtige Rolle in der Synchronisation der Signalverarbeitung und -weitergabe zwischen den Hirnarealen.
Versuche an Mäusen, Gewebeschnitten aus Mausgehirnen sowie Simulationen in mathematischen Modellen zeigten: Die Pyramidenzellen mit der Umgehungsleitung gaben trotz Hemmung bzw. Standby-Modus des Netzwerks häufiger Signale weiter als die „normal“ aufgebauten Zellen. „Der Mechanismus scheint umso bedeutender zu sein, je stärker die Hemmung der Pyramidenzellen ist. Denn dann sind nur noch diese speziellen Zellen mit der Dendrit-Axon-Weiterleitung aktiv, während ihre Kollegen schlafen“, so Both. „Welche Informationen so wichtig sind, dass sie trotz Ruhephase über diese speziellen Nervenzellen weitergegeben werden, wissen wir noch nicht.“
Die Hippocampi liegen an der Basis jeder Gehirnhälfte. Sie sind sowohl für das Wissens- wie für das Ortsgedächtnis zuständig und spielen eine wichtige Rolle bei der Überführung von Erinnerungen aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. Dazu übertragen sie Informationen in die Großhirnrinde, den sogenannten Neokortex. Wie die beiden Hippocampi ihre Aktivität synchronisieren ist nicht vollständig geklärt. „Möglicherweise sind die von uns untersuchten Zellen dafür zuständig, die Kommunikation zwischen den Hirnhälften aufrechtzuerhalten. Aber das muss die weitere Forschung zeigen“, sagt der Neurophysiologe.