Angespornt durch diesen Erfolg geht das Institut jetzt den nächsten folgerichtigen Schritt, die klinische Genomanalytik für alle Patienten mit einer seltenen Erkrankung bzw. mit familiären Tumorerkrankungen anzubieten. Bereits in den letzten Jahren wurden die meisten funktionellen Bereiche des Erbmaterials eines Menschen, die circa 23.000 Gene, gleichzeitig sequenziert und dann diagnosespezifisch ausgewertet. Diese Abschnitte stellen aber nur ein bis zwei Prozent des Erbmaterials dar. Mit einer „vollständigen“ Genomsequenzierung können jetzt auch Bereiche erfasst werden, die z.B. die Aktivität dieser Genabschnitte kontrollieren und Strukturvarianten, die mit der vorherigen Methode nicht sichtbar gemacht werden konnten.
Oberarzt Dr. Tobias Haack, stellvertretender Institutsdirektor und Leiter des Bereichs „Molekulargenetische Diagnostik“, betont, dass es das Ziel des Instituts ist, möglichst vielen Patienten mit einer seltenen Erkrankung oder einer familiären Tumorerkrankung eine Diagnose zu ermöglichen, auch denjenigen, die bisher mit der zielgerichteten Diagnostik ungelöst geblieben sind.
Das Institut arbeitet schon seit Jahren intensiv mit neuen Forschungskonzepten und Sequenziermethoden an der Erforschung unbekannter genetisch bedingter Krankheitsbilder (Koordination des bis 2017 durch die EU geförderten Netzwerkes Neuromics: https://rd-neuromics.eu/) und an interdisziplinären Diagnosekonzepten, „multiOmics“ Diagnostik genannt, im Rahmen des durch Tübingen koordinierten EU-geförderten Projektes SOLVE-RD. Eine wichtige Grundlage für dieses Konzept ist die genomumfassende Sequenzierung und eine breit klinisch ausgerichtete Bioinformatik.
„Wir haben eine umfassende, auf Algorithmen der künstlichen Intelligenz basierte Diagnostikpipeline für unser Diagnostikteam entwickelt, die es erlaubt, krankheitsverursachende genetische Varianten und Erkrankungsrisiken für Tausende von Patienten zu identifizieren“, hebt Professor Dr. Stephan Ossowski, Direktor des Computational Genomics Teams hervor. Bisher werden über die unterschiedlichen Erkrankungsentitäten hinweg nur ca. 50 Prozent aller (genetischen) Ursachen von seltenen Erkrankungen gelöst: „Dies werden wir innerhalb weniger Jahre deutlich verbessern“, so Professor Dr. Olaf Rieß, Direktor des Tübinger Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik.
Das Interesse des Teams geht jedoch weit über dieses ambitionierte Ziel hinaus: Es will auch entscheidend für eine auf den Genomdaten-basierende Krankheitsprävention beitragen. Dieses Konzept, das intern „Ge-Med“ genannt wird, ist nur mit Hilfe der Genomdaten umsetzbar. Die Realisierung dieses Innovationsprojektes unterstützt erneut die Firma Illumina. Dr. Andreas Dufke, Oberarzt und Fachgebietsleiter Medizinische Genetik des Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) am Universitätsklinikum hebt die überaus positiven Erfahrungen der letzten Jahre beim Umgang mit behandlungs- bzw. prognose-relevanten genetischen Daten in der Diagnostik hervor: „Mehr als 90 Prozent aller Patienten möchten im Rahmen einer genetischen Beratung ihr persönliches Risiko für genetisch bedingte Tumor- oder Herzerkrankungen wissen.“ In der Routinediagnostik werden bereits seit mehr als vier Jahren diese Befunde, wenn es von den Patienten gewünscht wird, mitgeteilt. Die Beratung von Risikopersonen für genetisch bedingte Erkrankung gilt als eine der Kernkompetenzen für einen Facharzt für Humangenetik.
In der ärztlichen Gemeinschaft und insbesondere unter Humangenetikern wird intensiv diskutiert, welche der Gene dabei in die Analyse eingeschleust werden sollte. Hier gibt es in unterschiedlichen Ländern und auch innerhalb eines Landes unterschiedliche Praktiken. Prof. Rieß hat daher im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik ein Netzwerk initiiert, welches eine Liste solcher therapierelevanter Gene (Ge-ACT) erstellt und kontinuierlich auf den neuesten Stand bringt.
Hat man sich bisher in der Diagnostik aufgrund der technischen Möglichkeiten auf die Auswertung von sogenannten monogenen Ursachen fokussieren müssen (die meisten Menschen kennen das Beispiel von Angelina Jolie, die eine Veränderung im Brust- und Ovarialkrebs verursachenden BRCA1 Gen trägt), so kann man jetzt in der kombinierten Analyse von hunderten genetischen Varianten, die in der Summe ein signifikantes Risiko für „Volkskrankheiten“ bedingen, das Lebenszeitrisiko für zahlreiche weitere Erkrankungen ermitteln. Diese kombinierte Analyse von Varianten wird auch polygener Risikowert, oder im Englischen „polygenic risk score (PRS)“, genannt. In der klinischen Umsetzung hat der Patient die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, ob er keinen, alle oder nur einen spezifischen PRS erfahren möchte. In der Praxis wird dies so aussehen, dass der Patient und der behandelnde Arzt dann zwei Berichte erhalten, einen über die kausale Indikationsstellung, mit der der Patient primär überwiesen wurde (z.B. familiäre Herzerkrankungen, Bindegewebserkrankungen, neurologische Erkrankungen) und darauffolgend einen mit einem Zusatzbefund basierend auf der Auswertung der therapierelevanten Gene oder einem PRS, falls dieser auffällig sein sollte. Im Moment arbeitet das interdisziplinäre Team mit mehreren Einrichtungen an der Einführung solcher PRS auch für die notwendige Nachbetreuung. Beginnen wird man mit Brustkrebs (Zusammenarbeit mit der Universitäts-Frauenklinik Tübingen, Prof. Sara Brucker) und gegebenenfalls weiteren Tumorerkrankungen (Kooperation mit dem Zentrum für Personalisierte Medizin (Prof. Nisar Malek) und dem Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen SüdWest (Prof. Lars Zender), als nächsten Schritt bereitet das Team die Analyse des Diabetesrisikos vor (Zusammenarbeit mit Deutschen Zentrum für Diabetesforschung, Prof. Andreas Birkenfeld) und anschließend kardiovaskuläre Erkrankungen (Prof. Meinrad Gawaz). „Wir haben das Ziel“, so Prof. Rieß, „die Implementierung der PRS für diese drei Erkrankungsgruppen noch in diesem Jahr umzusetzen.“
Auch hier gilt natürlich zum einen nur nach Aufklärung und Beratung durch den Arzt vor der Diagnostik, zum anderen nur wenn der Patient dies ausdrücklich wünscht und außerdem wenn der Zusatzbefund wiederum im Rahmen einer genetischen Beratung mitgeteilt wird.
Oberarzt Dr. Christopher Schroeder, Leiter der Onkogenetik am Institut, hebt hervor, dass die “Einführung der klinischen Genomsequenzierung erstmalig den Nachweis komplexer genomischer Biomarker in der Routinediagnostik ermöglicht. Gerade in der Tumordiagnostik ist dies enorm wichtig, da wir selbst in Hochrisikofamilien mit vielen Betroffenen oftmals keine kausale monogene Ursache nachweisen können. Die Genomdaten sind ungeheuer wichtig, da sie unserem interdisziplinärem Team ermöglicht, für den spezifischen Patienten Tumorpräventionsstrategien zu entwickeln, die vergleichbar sind mit den Therapieempfehlungen in einem molekularen Tumorboard. Unsere Aufgabe ist es insbesondere, das individuelle Tumorrisiko zu bestimmen und so eine Tumorbildung im Frühstadium zu erkennen bzw. sogar ganz zu verhindern, also das Gebiet der Tumorprävention voran zu treiben.”
Die Implementierung der PRS in der Praxis ist nicht ganz einfach: Zum einen sind viele PRS basierend auf Daten für die mitteleuropäische Bevölkerung entwickelt worden, sie können daher noch nicht für alle Personen angewandt werden. Zum anderen gibt es unterschiedliche PRS, entwickelt durch verschiedene Arbeitsgruppen, hier muss man sich zunächst auf einen Score einigen. Die genomweiten Daten haben aber den entscheidenden Vorteil, dass man auch im Nachhinein neue, noch bessere Risikoberechnungen jederzeit für die Patienten anwenden kann. Schließlich muss auch eine Einigung für die entsprechenden Krankheitsentitäten erfolgen, welchen Wert man als signifikant erhöht betrachten will (z.B. doppelt so hoch wie für die Allgemeinbevölkerung oder dreifach). Bioinformatisch ist das für das erfahrene Genomanalytik-Team um Prof. Ossowski keine Herausforderung, hier geht es vor allem auch um die klinische Nachbetreuung der Risikopersonen.
Das Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik ist auch sonst für künftige Herausforderungen gewappnet. Mit seiner Sequenzierservice facility, die Teil des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzierten „Next Generation Sequencing“ (NGS) Kompetenzzentren ist, sind alle modernen Sequenziertechnologien an der Fakultät vorhanden und es werden ständig neueste NGS-basierte Methoden für Forscher in ganz Deutschland zur Verfügung gestellt. So unterstützt das Team im Moment auch die Anstrengungen der Bundesregierung zur Überwindung der COVID-19 Pandemie, indem das Virusgenom nach Mutanten untersucht wird, RNA-basierte Biomarker im Blut von Erkrankten analysiert werden, um schwere Verläufe vorherzusagen und indem nach individuellen genetischen Risiken gesucht wird, die eine schwere Manifestation bereits vor einer Infektion bestimmen könnten.
Die Einführung der klinischen umfassenden Genomanalytik am Universitätsklinikum Tübingen soll andere Einrichtungen und politische Entscheidungsträger ermutigen, in personalisierte Gesundheitskonzepte zur Erkrankungsprävention verstärkt zu investieren. „Genetische Befunde sollten in Zukunft nicht nur der Krankheitsbestätigung gelten, sondern der Krankheitsverhinderung“, so Prof. Rieß. „Wir brauchen hier sowohl nationale wie internationale Anstrengungen.“ Er begrüßt daher, dass das Gesundheitsministerium im letzten Jahr der europäischen “1+ Million Genomes Initiative“ beigetreten ist, um genombasierte personalisierte Gesundheitskonzepte weiter zu entwickeln. Bei allen positiven Entwicklungen kritisiert er dennoch, dass Deutschland trotz zahlreicher Anträge beim Bundesministerium für Bildung und Forschung nach wie vor kein eigenes Genomforschungsprogramm initiiert hat.
So basieren die zur klinischen Anwendung kommenden PRS auf den umfassenden Daten aus Großbritannien und sind daher nicht deckungsgleich mit der deutschen Bevölkerung. Wie wichtig genomische Forschung für die Gesundheit der Menschen ist, sollte spätestens mit der Entwicklung der Impfstoffe gegen COVID-19 durch die deutschen Firmen Biontech und CureVac klar geworden sein.